Bitte nicht Danke sagen

Sie naht - die Atlantikwelle der Geschenke, der Gaben, deretwegen der Tisch, auf dem sie liegen, Gabentisch heißt. Und entsprechend der (Un-)Menge der Gaben, Geschenke, Präsente wird eine Unmenge von „Dankes" nötig: Einfache Dankes, viele Dankes, herzliche Dankes, viele herzliche Dankes, sehr viele herzliche Dankes, unendliche Dankes und wirklich endlose Dankes. Ich verstehe Ulrike schon, daß sie früh unter der Last des inflationären Dankes stöhnte (sie ist das vierte von sechs Kindern ihrer Eltern, die selbst jeweils aus geradezu asozial kinderreicher Familie kommen.) Ulrike (meine Cousine 2. Grades väterlicherseits) ist inzwischen Kämpferin dagegen. Gegen Dank. Ihre drei Kinder hat sie derart erzogen, daß diese kein „Danke" sagen lernten. Das war kein Problem in der frühen Kindheit von Klaus, Beate und Friedhelm (also meine Neffen und Nichte, 2. Grades.) Da - in früher Kindheit - bedanken wir uns ja eh nicht, sondern schlucken alles ebenso selbstverständlich wie die Muttermilch. Beziehungsweise danken wir auf die frühe Art: Wir lächeln, wenn wir uns freuen. Ulrike und ihr Mann haben die Erziehung von Klaus, Beate und Friedhelm zum Nicht-Danke so gemacht, indem sie (nach dem Motto: Kinder machen alles nach) sich selbst als Eltern, als Liebende, als Ehepaar untereinander nicht mehr dankten. Ulrike und Werner haben nicht nur abtrainiert, sich zu danken beim Rüberschieben der Zuckerdose, sondern sie unterdrückten auch ihr wechselseitiges Danke, wenn sie sich gegenseitig Freude machten oder schenkten. (Unterdrücken mussten die beiden das Danken deshalb, weil sie natürlich noch beide zum Dankeschönsagen erzogen wurden.) Ulrike und Werners Kinder dankten also nicht mit „Danke", sondern lächelten einfach. Ich fand das sehr süß, dies Lächeln meiner kleinen Neffen und Nichten als Reaktion auf meine Mitbringsel zu Besuch, zum Geburtstag oder zum Heiligabend. Erst einige Jährchen später, als ich dem einen der beiden heranwachsenden Neffen mein Moped vererbte und es ganz überraschend für ihn vor seinem Gabentisch aufbaute (überholt natürlich, wie neu wirkend) - da fiel mir etwas auf: Ich vermisste ein Danke. Ich vermisste es deshalb besonders, weil der 17-jährige kleine Neffe von damals auch nicht mehr lächelte. Nichts war. Er setzte sich drauf und fuhr los. Ohne Motor im living-room, später draußen mit Geknatter. Ich wunderte mich. Und mit mir die Lehrer von den Dreien, ihre Freundinnen und Freunde, der Kaufmann, der ihnen Rabatt gab...Zwischenzeitlich hatten Klaus, Beate und Friedhelm unter dem Druck des Wunderns um sie herum doch gedankt. Sozusagen aus Versehen hatten sie auch zuhause mal gedankt. Woraufhin Ulrike, meine konsequente Cousine (2. Grades) sagte: „Bitte sage nicht danke!" Aha - dachte ich, als ich das erlebte: Bitten tun sie doch. Nur nicht danken. Apropos Atlantikwelle der Geschenke demnächst in diesem Danke-Theater des Helligenabends: Es gibt unter den Gaben, die sich bei mir häufen auch Präsente, die Werbepräsente" sind. Ganz genau genommen aber sind alle Geschenke Werbung: Werbung für den, der schenkt und Umwerbung dessen, den wir beschenken. Ich wünsche Ihnen ein erträgliches und verträgliches Maß im Werben und Umworbenwerden in der anlaufenden Weihnachtszeit. Gewisse Menschen nutzen noch das Wort „Freude machen" oder gar Liebe" - statt Werben/Umworbenwerden. Von denen wünsche ich Ihnen auch welche. Und welche. die „Danke" sagen. In Maßen, dafür mit jenem Lächeln von ganz früher.

15. Dezember 1992