Countdown zum Ferienbeginn
Ich bin Mann einer Lehrerin, Vater schulpflichtiger Töchter, tätig u.a. in der (Sonder-) Lehrerausbildung jetzt gebe ich auf. Ich gebe meine coole Fassade, meine souveräne Haltung, meine distanzierte Überlegenheit gegenüber diesen, immer wahnsinniger wirkenden Menschen, auf die auf das Schuljahresende, auf den Ferienbeginn hinleben wie auf einen jüngsten Tag. Ich mache jetzt einfach mit in dieser Hetze auf das Ende hin, im Messen der allerletzten Kräfte, die man der niedersächsischen Schule opfert. Ich begleitete die letzte Fahrt (zur Schule) mit, packe zum letzten Mal Schulbrote, Hefte, Bücher, Tempotaschentücher mit ein und teile dies depressiv-tragische kollektive Gefühl, daß diese letzte Zeit eine besonders furchtbare sei. Warum ich jetzt mitmache - und mitjammere, mitklage, mitstöhne? Es ist meine psychologische Kenntnis von Energien: Mit dem Strom zu schwimmen ist weniger anstrengend als dagegen. Vorher war ich natürlich dagegen. Gegen diesen letzten Overstress vor den Ferien. Da habe ich geduldig darauf aufmerksam gemacht, daß der Schuljahresschluss sicher käme. Aufregung über Lehrer und Kolleginnen und Eltern sich also nicht mehr lohne. Ich habe gepredigt, daß jedes Jahr die Kräfte noch nie so am Ende waren wie in diesem Jahr, es sich also um ein Konditionierungsphänomen handele, diese noch nie so gekannte Erschöpfung. Ich habe ermutigt, daß nach meiner Kenntnis auch in diesem Jahr nach dem schier unerreichbaren Schuljahresende Ferien kämen, auf die sich eigentlich freuen ließe... Ich habe gewarnt, daß in den Schuljahresschluss derart viel unnötige Energien flössen, daß möglicherweise für den Genuss des Ferienbeginns keine mehr da seien. Nichts fruchtete. Damit ich sie ab morgen mit meinen Lieben umso mehr genießen kann. Irgendwie erschien mir diese Gruppe von Menschen, die der deutschen Schule unmittelbar oder mittelbar verbunden sind wahnsinnig. Natürlich weiß ich um die Diagnose Wahnsinn genauer Bescheid und nutze hier den Begriff mehr symbolisch. Aber mit Wahn hat dieser Sinn der jährlichen Wiederkehr allerletzter sich aufbäumender Anstrengungen in und für die deutsche Schule schon zu tun. Mindestens mit dem Wahn, daß es sich um ein schweres Schicksal handelt, wenn man diese letzten Stunden vor den Ferien erleben und sozusagen Stunde für Stunde absitzen um nicht zu sagen ableben muss. Diesen Ferien, die unglücklicherweise auch noch den Beinamen „groß" führen, was den in ihm schlummernden Wahn nochmals vergrößern hilft. Ich nenne ihn den „großen Ferienwahn". Zur Differentialdiagnose vom „großen Ferienwahn" gehören als Symptome: Die Angst, sie könnten nicht eintreten (die großen Ferien). Und: Die Arbeit bis dahin könnte nicht rechtzeitig bewältigt werden. Und: Die Gesellschaft ringsumher könnte sie einem missgönnen wer hat schon 6 Wochen, (in Worten: sechs Wochen) Ferien am Stück, die Nebenferien nicht gerechnet. Wahrscheinlich liegt ein Dispotent für den großen Ferienwahn eben darin: Die Missgunst derer, die keine großen Ferien haben. Und, um dieser Missgunst entgegenzusteuern, wird gestöhnt, geklagt, gejammert, geängstet und noch nie der Kräfteverschleiß derart empfunden wie heuer. Was mich betrifft: Ich jammere jetzt mit und klage und bestätige wie schwer das Schicksal ist, bis zu den großen Ferien zu gelangen.
15. Juli 1997