Der silberne Löffel fehlt

Es gibt „Stadtgespräche" (zum Beispiel bei Pleiten), es gibt aber auch Betriebsgespräche („die ganze Firma redet davon'') und es gibt Familiengespräche (,,bis in den dritten Grad"). Merkwürdigerweise sind die Themen solcher Gespräche fast immer das Pech, die Pannen oder eben Pleiten bisher weißer Schafe. Schwarze Schafe sind auf die Dauer langweilig. Eben weil sie dauerhaft für Peinliches, Unglückliches stehen. Bei uns zuhause hält sich das Thema vom abhanden gekommenen silbernen Löffel. Das war so: Nach der wunderschönen Konfirmation am Wochenende stellte Christine montags beim Aufräumen entsetzt fest, daß ein silberner Löffel fehlte. Was Christine entsetzte war die Tatsache, daß dieser fehlende Löffel ausgerechnet aus dem Set stammte, das wir von Tante Ulrike ausleihen durften, weil uns Löffel für die vielen Gäste fehlten. Und Tante Ulrike legte sich ins Zeug und lieh uns ihre besten Stücke von ihrem verstorbenen Mann Herbert aus Norwegen als Kriegsandenken mitgebracht, wie sie uns bedeutsam erzählte, um den Wert der Konfirmation mit ihren Löffeln zu steigern. Es wurde zunächst normal gesucht, dann fieberhaft, schließlich panisch und die Phantasien wucherten. Was würde Tante Ulrike machen? (Das ahnten wir allerdings). Wer könnte denn vielleicht - den Löffel mitgenommen haben? (Dieser Gedanke war angesichts der Gesellschaft verboten, außerdem war es ein christliches Treffen). Das Familiengespräch wurde dadurch auch auf tiefenpsychologischer Ebene angeheizt dadurch, daß diese Familie seit Generationen vorwiegend Beamte hervorgebracht hatte. Und alle diese toten und lebenden Beamten der Familie waren aufgezüchtet worden mit dem schon frühkindlich prägenden Satz: Ein Beamter darf sich alles in seinem Amt erlauben - nur silberne Löffel kosten ihn das Amt. Christine trat die Flucht nach vorne an und machte den Phantasien, wo der Löffel sein könne, ein Ende, indem sie beschloss, nächsten Sonntag selbst zu Tante Ulrike zu fahren und das defizitäre Silber-Set von Onkel Herbert abzugeben. Doch der Gott der Konfirmation von Dorothea - half einen Tag vor dieser Fahrt von Christine nach Canossa bzw. Soltau zu Tante Ulrike: Großonkel Paul Gerhardt, ja, eben der, schrieb einen Brief, nein, er schickte einen Doppelbrief - per Einschreiben. Mit einem kurzen entschuldigenden Brief - er habe beim Kaffeetrinken draußen, in der herrlichen Sonne im Gespräch mit einer fraulichen Frau mit dem Löffel umgerührt und ihn dann wohl weggesteckt. Die Reinigung in Falkenburg, die auch sonst die Sachen vom Pfarramt von Onkel Paul Gerhardt betreut, habe den Löffel gerettet. Und außerdem gewaschen. Christine schläft seitdem wieder gut ein und Tante Ulrike erfährt nie was, weil die AZ nicht bis Soltau reicht. Und Dorothea findet diese Geschichte vom Pastor, der silberne Löffel mitgehen lässt, „die schönste der ganzen Konferzeit".

15. Juni 1993