Scheinbar alte Geschichte

Genauer: Es war 1961. Da lag es nun vor ihm - das Klassenarbeitsheft in Latein und es nützte ihm nichts, daß seine Mutter ihn beim Frühstück mit dem Trost aufzumuntern versucht hatte, dies sei die letzte Klassenarbeit vor Weihnachten. Nichts nützte das Üben mit seinem Alten! Er, sein Senior, konnte ja auch in seiner vorsintflutlichen 7. Klasse von anno dunnemals die Weihnachtsgeschichte Lukas 2 auf Lateinisch vor dem Weihnachtsbaum aufsagen, später - in der 11. auf Griechisch und noch später auf Hebräisch. Na ja, er war auch Pastor geworden, sein Alter. Aber ein ansonsten brauchbarer Mensch, mit dem sich reden ließ - besonders über Mädchen und andere Religionen. Nur nicht über Latein! Dies Latein noch heute sagte sein Alter diese blöde Weihnachtsgeschichte nach den Gottesdiensten in der Kirche zuhause vor der privaten Bescherung auf lateinisch auf- und die Familie hörte ihm höflich zu. Er selbst hatte diesem seinem Erzeuger noch vorletztes Jahr zu Weihnachten geschenkt, daß er die Weihnachtsgeschichte immerhin deutsch auswendig konnte - wenn auch nur bis zum ,,Ehre sei Gott" und dies auch nur, weil er den Text von Lukas 2 (Chorjagon: Haut den Lukas zweimal) in der Ecke der Aula dauernd und direkt bei diesen gähnend langweiligen Schulchorproben vor der Nase hatte. Nichts nutzte ihm nun die wochenlange Nachhilfe bei Rolf, dem Klassenzweitbesten in Latein, nichts das freundliche Zunicken von „Pünktchen", dem Lateinlehrer, als dieser ihm den Zettel ausgehändigt hatte, den es zu übersetzen galt. Vom Lateinischen ins Deutsche. Nichts nützte ihm das alles, weil sich wieder dieser Vorhang zwischen sein Denken und das Klassenarbeitsheft senkte und das Denken wegschob. „Na?" hörte er Pünktchen von hinten fragen, ,,Na? erkennst Du den Text wieder?" Der Vorhang in ihm hob sich ein bisschen, die Umrisse vom Klassenarbeitsheft und Textzettel schoben sich wieder dem näher. Wieso „wiedererkennen?" Er schaute auf die erste Zeile des Textes. Irgendwie kam ihm die Ahnung, der Vorhang können sich weiter heben. Bis jetzt sagten ihm die Worte nichts. Lautlos las er mit den Lippen die ersten Silben „Factum est autem... in diebus illis..." Jetzt war er hellwach. Ehrlich, könnte sie das sein - diese alte Geschichte vom „Haut den Lukas"? Dann müssten gleich die altvertrauten Namen kommen wie „Caesare Augusto" und Bethlehem". Sie kamen. Die alte, ausgeleierte Weihnachtsgeschichte brachte die einzige gute Zensur für ihn in diesem Schulhalbjahr. Und sie steckte die anderen schlechten Zensuren ebenso an wie früher. Diesmal allerdings im Guten. Denn die Arbeit wurde ein „Gut". Nie erfuhr er, was er oft dachte: Ob „Pünktchen", der seinen Vater gut kannte, eigentlich geschummelt hatte. Ihm zuliebe. Aber er hatte auch nie gefragt. Den Alten nicht. Und Pünktchen schon gar nicht.

14. Dezember 1993