Von jemandem, der Osterbräuche ablehnt
Osterbräuche zu bedenken - das sei nicht Sache eines Dienstags vor Ostern? Bestenfalls erst die ostersonntägliche Lektüre der Zeitungsbeilage zum Fest erlaubt uns Sturmwetter vorausgesetzt, das uns drinnen zu bleiben zwingt - einen nachsichtig-besinnlichen Blick auf die Feierweise von früher? Ich bin da gänzlich anderer Meinung seit ich in Susannes Buch geblättert habe, das von Oster- (und anderen) Bräuchen handelt. Welch Over-Stress, welch Dis-Stress, in jedem Fall: Wie stressig war Ostern früher! Mit all diesen Bräuchen, die gebraucht sein wollten. Um wieviel mehr kann ich nun den Ostertagen dankbar entgegenleben dankbar dafür, was für Bräuche ich nicht mehr brauche. „Die Vögel wecken" - das hieß, in gemeinsamen Umzügen noch vor dem Sonnenaufgang aufstehen und durch den österlichen Wald ziehen müssen. Mädchen und Frauen für sich, wir Männer machten dazu vom Ort aus Musik und es läuteten die Kirchenglocken. Man stelle sich vor: Zirka 4 Uhr nachts aufstehen. Dann Musik mit unausgeschlafenen Laien und dazu das Gedröhn von Kirchenglocken, die in modernen Großstädten bei modernen Bürgern heutzutage Zivilprozesse auslösen, weil Kirchenglocken-Ausschwingvorgänge gegen das Lärmschutzgesetz sind. Oder das „Osterspritzen" - dann Glück bringend, wenn die Burschen die Mädchen Ostersonntag mit duftendem Wasser bespritzten und die Mädchen am Dienstag danach zurückspritzten. Wenn das nicht eine dieser verdeckenden Symbolhandlungen für den Umgang mit der Frühlingssexualität war, mit denen sich der Mann der Frau näherte und von Ferne mittels Spritzwasser an den Zeugungsakt erinnerte? Egal - man(n) stelle sich vor, während oder nach dem Frühspaziergang (zum „Vögel wecken", siehe oben) mit kaltem Wasser bespritzt zu werden. Und das in voller Kleidung. Apropos Kleidung: „Neue Kleider ausführen" zählt nach Susannes Buch (von einer Sybil geschrieben) auch zu den Bräuchen. Man zog sich nicht nur Frisches an, sondern gewandete sich neu. Um sich selbst ebenso zu erneuern wie die Natur es tat. Als ob Erneuerung von der Äußerlichkeit abhinge. Nein welcher moderne Bundesbürger zieht sich schon Neues am Festtag an, wo Festtage die letzten Gelegenheiten sind, in die geliebten ältesten, abgerissenen Jeans steigen zu können. Wo bliebe sonst die Möglichkeit zum stillen Protest gegen die Verkleidung, die der Alltag fordert? Kutschfahrten in der frisch geölten, neu bemalten Karosse? Wettreiten und Wettläufe, um Osterkönigin und -könig zu wählen? Ballspiele als Symbolspiele zum Lob der höhersteigenden Sonne? Diese Art Ostertage, gefüllt mit diesen Bräuchen, waren die durchgehende Fremdbestimmung durch die Gemeinschaft. Es lebe die Neuzeit mit dem Individuations- Freiraum! Statt „Vögel wecken" werde ich ausschlafen am Ostersonntag. Und statt des Weckers wird mich die neu gekaufte Kassette mit den oberbayrischen Klosterglocken wecken - ja denen, die ich im letzten Urlaub so gerne hörte. Zum Frühstück gibt es nicht nur einfach das normale Ei, sondern ein angemaltes. Das ist ein netter Zug von Tante Ulrike, daß sie sich jährlich neue Motive für die Frühstückseier ausdenkt. Anschließend ist genug Zeit, vor dem Fernsehgottesdienst - den muss ich diesmal sehen, weil mein Dienstvorgesetzter im Chor mitsingt und manchmal zeigen die den Chor ja auch in Großaufnahme, wenn die Predigt zulange ist - davor ist also noch genug Zeit, die neue Duschmulde auszuprobieren, die wir uns zu Ostern leisteten. Die, in der man zu zweit bequem duschen kann. Nach dem Fernsehen ist dann endlich Zeit fürs Wagenwaschen so recht in Ruhe und besser als jede Wagenwaschanlage. Außerdem kann ich dabei die andere neue Kassette hören - Volkslieder aus Russland. Aus dem wirklich alten, dem richtigen Russland. Und nachmittags auf ist Freundschaftsspiel dem neuen TUS-Platz. Wenn das keine Verlängerung gibt bei dem Spiel - dann reichts noch zum Osterpreisskat vor dem Kaffeetrinken bei Mama, die in ihre Ostereier für die Gäste immer gewisse kleine Scheine zaubert. Das nenne ich ein freiheitliches Osterprogramm ohne diese Bindungen an alte Bräuche. Und zudem wirkliche freie Zeit, diese Freizeit. Sie beginnt für uns am Ostersonnabend mit den sieben Osterfeuern, die wir diesmal abklappern wollen. Letztes Mal waren es nur fünf. Außerdem gibts nachts noch den ersten Teil der Fernsehserie „Blinde Flecken" ...
14. April 1992