Verloren ist das Schlüsselein

Verloren ist das Schlüsselein. Mit diesen vier Wörtern endet eines unserer ältesten und schönsten Liebesgedichte - und mit Liebe im weitesten Sinne hat auch diese Geschichte zu tun, in deren Zentrum der Busfahrer am Oderteich im Harz steht. Ausgelöst durch unseren Autoschlüssel, den wir verloren hatten. Ich sage „wir verloren hatten". Christine war schließlich hergefahren, meinte ich. Ich hätte aber noch das Fernglas aus dem Kofferraum geholt, meinte sie. Und während wir weiter meinten, suchten die Kinder ebenso ergeben wie ergebnislos unter dem Auto nach dem Schlüssel. Eben jener Schlüssel, der die folgende Liebesgeschichte unter Menschen ankündigt. Doch vor jeder wirklich glückhaft endenden Geschichte steht das Drama. Denn wie an die Groschen gelangen, mittels derer man in der nächsten Kneipe ein Taxi herbeirufen konnte? Denn das Geld lag in derselben Tasche wie der Ersatzautoschlüssel in der 12 Kilometer entfernten Ferienwohnung. Wie seine Hilfsbedürftigkeit den Mitmenschen mitteilen, die um uns herum in ihre Autos stiegen und unseren Jammer, unsere Heimatlosigkeit nicht ahnten? Wir sagten es unseren Mitmenschen einfach. Christine stellte sich mit Friederike auf den einen Parkplatz, ich mit Dorothea auf denjenigen gegenüber. Kinder erhöhen schließlich den Appellwert menschlichen Mitleids und auf dieses waren wir angewiesen. Beide Familien-Teilgruppen erlebten jetzt dasselbe: Wir fragten umsonst. Das Sprüchlein „Entschuldigen Sie die Störung - können Sie uns wohl helfen..." führte bei den meisten bereits zum Kopfschütteln - bevor wir die Bitte um Transport zu Ende aussprechen konnten. Geschweige, daß wir den Satz „Natürlich zahlen wir Ihnen alle Unkosten und Auslagen!" anhängen konnten. Zwischendurch tauschten wir die Erfahrungen aus: Christine hatte ebenso wenig Erfolg mit sich und der einen Tochter wie ich mit mir und der anderen Tochter. Der einzige Erfolg bestand in der folgenschweren Verunsicherung, wie falsch wir unser bisheriges outfit, unseren persönlichen Eindruck, unseren Habitus eingeschätzt haben mussten Keiner wollte uns. Geschweige denn helfen. Wir sprachen würdige Ältere an und jugendliche Junge, wir näherten uns jugendlichen Älteren und würdigen Mittelaltern - alle mit viel Platz in ihren Autos. Nichts. Kopfschütteln, „wir wollen woanders hin...", manchmal nur ein kleines „Nein!" Während Dorothea die Finger klamm wurden und ich jenen ewig pessimistischen Großonkel erinnerte („Wir Deutschen sind ein schlechter Charakter - erst in Notzeiten werden wir hilfsbereit") näherte sich ein Omnibus. Ihm entquollen unendliche Massen von jungen Leuten mit einigen Älteren, alle in Wanderkleidung, die sofort ausschwärmten. Wir waren wieder allein. Das heißt - der Busfahrer, der sorgte noch in seinem Dom auf Rädern - es war wahrlich ein Riesenbus für Ordnung. Ihm näherte ich mich und sagte mein Sprüchlein auf, Dorothea als Lock- und Überzeugungsmittel vor mich haltend. Ich endete mein Sprüchlein mit der, zugegeben, blöden Fragen, ob er eine Idee für uns habe. Dabei hatte ich hinter meiner Frage den einzigen Gedanken an Wärme - diesen begehrten Mief innerhalb eines Busses. Was sagt da dieser Mensch, ca. 55 Jahre junggeblieben, rundlich und an einen dieser freundlichen Mönche erinnernd, wie sie manche Flaschenetiketten zieren? Er sagte: „Steigen Sie ein - ich muss ohnehin auf meine Leute zwei Stunden warten." Wir waren gerettet - der Mief der Menschen würde uns wärmen! Doch es kam anders: Er fuhr uns nach Hause... die ganzen 12 Kilometer hin schaukelte dieser freundliche verheiratete Mönch, Kiehne heißt er, seinen Großraumbus durch den Oberharz - in Richtung auf unseren Ersatzautoschlüssel, Geld, unsere Wohnung schlicht: das Leben zu. Und er schaukelte uns ebenso wieder zum Parkplatz zurück, wo wir die eigene heimatliche Höhle auf vier Rädern bestiegen. Immer noch ungläubig, daß dieses Gebirge auf vier Rädern, dieser Mordsbus, nur unseretwegen durch das Gebirge des Harzes rollte. Warum ich dies unter „Liebesgeschichte" zähle? Weil dieser Mönch, namens Herr Kiehne, der unser Engel wurde, den Großonkel Lügen strafte: Einzelne unter uns Deutschen sind gar nicht so, sondern anders

13. November 1990