Stern-Stunden (1)

Großonkel Johannes gehört zu den Menschen, die ihre schönsten Wochen des Jahres in einem Fünfsterne-Hotel an der See zubringen, um sich von den heimatlichen 162 Meter Berghöhe (er wohnt am Wilseder Berg) zu erholen und darüber hinaus den häuslichen Komfort entweder halten oder endlich mal übertreffen zu können. Meist spart er seit Weihnachten für diese Zeit mit den fünf Sternen. Alexander und Ulrike ziehen meist für dieselben Zeiten in die Wüsten Nordamerikas oder Algeriens, um nicht fünf, sondern die unzähligen Sterne des Wüstenhimmels über sich zu erfahren. Ich fuhr mit Christine und den Kindern für unsere Sternstunden ziemlich genau zwischen die fünfbesternte saisonale Meeresspiegelhöhe von Großonkel Johannes und die inflationär besternte Wüste von Alexander. Wir fuhren 2400 Meter hoch ans Ende jenes Graubündener Grenztales auf Hans und Vrenis Berghof, den nie zu verraten ich den Gastgebern und mir geschworen habe. Weil dieses Dasein da oben eine hohe Schule ist. Einige Lehr-Beispiele aus dieser Schule: Am Eingang zu jenem Tal kehren wir in eine Beitz, eine echte Schweizer Kneipe, ein und einige echte Schweizer begrüßen uns ebenso freundlich wie kurz am Nebentisch, während wir uns niederlassen und Wurstsalat bestellen. Während wir essen, steht einer unserer Nachbarn auf und geht an den Zigarettenautomaten. Auf dem frei gewordenen Platz sehe ich Christine starren und den Mund, leicht öffnen. Mit noch nicht geschlucktem Wurstsalat. Ich drehe mich um und sehe neben dem frei gewordenen Platz - ein Bein. Es steckt in einem wunderbar glänzenden schwarzen Halbschuh (Lack), über das Bein ist ein sauberer Strumpf gezogen, der bis zum Knie reicht. Dieses Knie ist original hautfarben und hört dann plötzlich auf - so wie Christines Kautätigkeit. Den Rest unseres Essens - unser Nachbar war inzwischen zurückgekommen - grübelten wir, wem das abgeschnallte Unterbein nebenan wohl gehören mochte. Im Gespräch mit den Nachbarn fanden wir es dann heraus. Der, dem es gehörte, sagte dazu nur: „Ich brauch' es nur zum Her- und zum Heimkommen. Ansonsten behindert es mich nur. Und das moderne Kunstbein, das ich mal hatte das verbrauchte mehr Zeit." Dieser Satz enthielt drei Erkenntnisse und ist Konzept für (leider nur) solch eine Erd-Ecke. Erstens: Gebraucht wird nur, was gerade gebraucht wird. Zweitens: Altes braucht nur Zeit, während Neues oft Zeit verbraucht. Drittens: Unsere Prothesen behindern uns manchmal mehr als unsere Amputationen. - Der Satz verfolgt mich bis zum Auspacken unserer Koffer mitsamt Zahnklammern, tragbarem Computer fürs Kolumnenschreiben, Sonnenölen, Bandagen, Spazierstöcken, CD- und Kassettenrecorderanlagen. Lauter Prothesen... ✩ „Und was macht Ihr, wenn Ihr fertig seid?" frage ich Judith und Martin, während sie die sechs Milchkühe melken und die vier Kälber in ihrer Almhütte tränken - nochmals 400 Meter höher als Hans und Vrenis Berghof und oberhalb der Baumgrenze. “Habt Ihr Fernsehen hier oben - oder einen Kassettenrecorder?" Bei der Antwort wäre ich gern in der Almwiese verschwunden: „Spielen," war die Antwort. „Wir spielen die Abende miteinander." Vor Scham wäre ich gern in der Wiese verschwunden. Vor Scham über meine zivilisationsbedingte und High-Tech-frei- zeitversaute Gedächtnisschwäche dem Schönsten gegenüber, was Menschen, junge allzumal, in der Freizeit tun können: spielen. Reuig schlage ich abends ein Ballspiel vor dem Haus vor, doch der Ball ist nicht mitgefahren im Gepäck, und im Haus findet sich auch keiner. Resigniert gehe ich, doch eine Viertelstunde später werde ich von meinen Töchtern zurückgeholt, die in Vrenis Abstellraum einen Tischtennisball gefunden haben. Einen mit Delle. Ich versuche vergeblich, die Delle herauszukochen, weswegen wir nach einer Stunde mit dem Ballspiel mittels Tischtennisball mit Delle beginnen. Die Lehre daraus: Seit einer Woche spielen wir mit diesem Dellball. Und sind gestern an dem 30 Kilometer entfernten Spielwarengeschäft mitsamt vierfarbsiebgedruckten Lackbällen im Schaufenster vorbeigegangen. Ohne etwas zu vermissen. Oder haben zu wollen. Stern-Stunden!

13. August 1991