Uelzens Defizit
Es geht nicht um Geld. Das ist leichter zu beschaffen für die diesbezüglichen Defizite, als das kulturelle Defizit, was ich meine. Ich meine einen Uelzener Karnevalspräsidenten. Die Kultur des Karnevals pflegen wir durchaus ja auch, indem wir uns mit einer aufgeklebten Pappnase und mit einigen Berlinern (Krapfen statt der sonstigen Chips) und Sekt statt Bier vor das Heimkino hocken, um „Mainz wie es singt und lacht" anzusehen. Die Institution des Karnevalspräsidenten hingegen haben wir dadurch noch lange nicht. Dabei ist sie beneidenswert: Im Sommer fuhr ich zu einem Festvortrag zur AOK-Rheinland in Köln - und wer wurde vor mir begrüßt? Ein Karnevalspräsident. Wem schlug donnernder Applaus entgegen, als er (verspätet) eintraf (während ich als Hauptredner pünktlich war)? Wer? Eben. Am Abend desselben Tages wurde ich von meinem nächsten Veranstalter zu einem festlichen Essen eingeladen. Nun muss man wissen, daß bestimmte Kreise im Rheinland unter festlichem Essen auch automatisch den vorherigen Besuch der Abend-Messe im Kölner Dom verstehen. Sozusagen als Tischgebet. Wer predigte? Nein, nicht der Karnevalspräsident (da sind wir im Kirchenkreis Uelzen liberaler, wo auch Politiker und andere, die nichts von Theologie verstehen, predigen dürfen). Vielmehr hielt die Messe der Kölner Kardinal höchstpersönlich - und wen begrüßten Eminenz namentlich? Richtig meinen Karnevalspräsidenten vom Vormittag. - Für den Fall, daß jemand mir persönlichen Neid auf die Person des Kölner Karnevalspräsidenten unterstellen sollte - weit gefehlt! Ich durfte ja neben dem Präsidenten sitzen und vor ihm meinen AOK-Vortrag über Gesundheitsberufe halten und hinterher hören, daß sich für mein Thema vielleicht weitere Kreise des Karnevals-Präsidiums interessieren könnten. Nein Neid auf diesen Präsidenten ist es nicht. Es ist mein Neid um die Institution Karnevalspräsident. Denn überall wo der auftaucht klatschen die Menschen und freuen sich, daß er da ist. Die zerstrittensten Parteien vergessen für die Zeit der Begrüßung von ihm und während seines jeweiligen Grußwortes ihre Zerstrittenheit. Sie gehen hinterher zwar wieder auf ihre unveränderten Probleme zu - jedoch verändert in ihrer Problemeinigkeit. Ich begreife, warum das Rheinland keine heimlichen Monarchie-Freundeskreise hat, die immer mal wieder die Reste unserer Welfen oder Wittelsbacher oder Hohenzollern interviewen, wieweit die für eine neue Krone in unserer Republik zur Verfügung stünden: Das Rheinland hat seine unbestrittenen Könige: Die Karnevalspräsidenten. Und diese üben die Macht der „sozialen Schmiere" aus, die das Räderwerk zerstrittener Gesellschaftsteile am Laufen hält: Alles freut sich, alles applaudiert, alle sind geehrt durch ihre Anteilhabe am Höchsten, wenn ein amtierender Karnevalspräsident auftaucht. Im Kölner Dom sollen bei jener Messer, außer mir, noch viele andere Protestanten und gar echte Kirchen-Austrittler gewesen sein. Ein Karnevalspräsident macht's möglich, daß Grenzen aufgehoben werden. Vorübergehend. Sowas fehlt uns hier. Uelzen könnte natürlich klein anfangen. Norddeutsch. Mit einem Beauftragten für die Einführung des Karnevalswesens.
13. Januar 1998