Eine November-Geschichte

„Ach ja," hörte ich den älteren vor mir sagen, „der November ist schon ein trauriger Monat Allerheiligen, Volkstrauertag, die dunklen Tage“ ... Und die ebenfalls ältere Dame, der das galt (wir standen in der Schlange vor der Supermarktkasse) nickte seufzend. „Gräber," pflichtete sie bei, „ein Monat der Gräber...Mich erinnerte das Gespräch in der Uelzener Supermarktkassen-Schlange an die Novembergeschichte des Onkel Otto von der Rauhen Alb in Württemberg, als er als junger Offizier im zweiten Weltkrieg mit seinem kleinen Trupp in ein Dorf in der Nähe von Warschau einmarschierte. Auf der einzigen Straße war keine Menschenseele zu sehen. Die zertretenen Wege zwischen den Katen führten auf leere Felder, und weder im Schulgebäude noch im Gebäude neben der Kapelle, der Poststelle, war ein Mensch zu sehen, kein Erwachsener und kein Kind. Nur Hühner scharrten im Sand. Die Schweinekoben standen leer, ebenso die Boxen für Rinder und Pferde, von denen es aber auch nur vereinzelte gab. Es war ein bitterarmes Gemeinwesen. Onkel Otto und seine Soldaten wussten, daß bereits vor ihnen Deutsche auf dieser Strecke durchgezogen waren. Und die waren nicht alle so friedlich gewesen wie diese versprengte kleine Wehrmachtstruppe. Dies bedachten Onkel Otto und seine Leute, als sie mit der Suche nach Menschen fortfuhren und nicht gleich aufgaben. Oder sich ungefragt leerstehender Häuser und Räume bemächtigten, die sie für das Quartier brauchten. Sie hatten Erfolg, die Männer. Beim Betreten einer der größeren Hofscheunen hörten sie plötzlich außer dem Hühnergackern von außen ein unterdrücktes Husten. Und dann soll es so gewesen sein: Onkel Otto und sein Adjutant stiegen eine herbeigeholte Leiter hoch. Einer hob die Holzbohle, ein anderer entsicherte die Waffe und ließ sie wieder sinken, als sie im Halbdunkel des Dachstuhls in mehrere ganz alte, runzlige und ganz junge, kindliche Gesichter schauten, deren Augen von Angst geweitet und starr auf die beiden Soldaten gerichtet waren. „Nichts tun, nichts tun," sollen die einzigen Worte gewesen sein, die den beiden Wehrmachtsangehörigen mehr entgegengeflüstert als gesagt wurden. Und in diesem Flüstern müssen vorherige schreckliche Erfahrungen mitgeschwungen haben. In dieser Atmosphäre der Lähmung fiel Onkel Otto die Sammlung einiger bäuerlicher Ikonen-Bilder ein, die ihm unten im Wohnraum des Hofes aufgefallen waren. Er nestelte eilig ein kleines silbernes Kruzifix unter dem Uniformhemd hervor, das er zu Beginn seines Theologie-Studiums von seiner Verlobten bekommen hatte und schwenkte es so durch die Luke, daß noch Tageslicht von unten darauf fallen musste. „Wir sind Christen," rief er und zählte dann aufs Geratewohl Namen von Heiligen und Aposteln auf, die ihm einfielen. Und es geriet wohl: Sie kamen alle hervor - erst der Alte, der die ersten Worte geflüstert hatte, dann - zögernd - die anderen: Kinder, junge Frauen in Männerkleidern, ältere Frauen und ganz Alte. Zum Schluss standen fast 30 Menschen unten in der Scheune, und es sollen zwei friedvolle, nachdenkliche und bewegende Tage geworden sein, die Onkel Otto und seine Leute in diesem Dorf als Gäste der kleinen verschreckten Gemeinschaft erlebten. Onkel Otto ist ein „klassischer Fall" für den Volkstrauertag am kommenden Sonntag, aber ein positiver Fall: Onkel Otto wurde mit 2565 anderen deutschen gefallenen Soldaten auf dem Friedhof Warschau-Powatzki beigesetzt und im vergangenen Oktober mit Hilfe der Kriegsgräberfürsorge auf den neuen und befestigteren Friedhof Joachimov-Mogily umgebettet. Doch zuvor hat er sich und anderen eine Grunderfahrung vermittelt: Vertrauen. Von dem die Gegenwart zwischen Polen und der Bundesrepublik zehrt.

12. November 1991