Die Herrschaft der Bundesbahn

Leute, die verreisen, kann man in zwei Klassen einteilen. Erstens die, die sich drei Wochen vorher nach dem besten Zug erkundigen, viermal auf der Bahnhofsauskunft nachfragen, ob der auch wirklich fährt. Dann überlegen sie acht Tage, was sie mitnehmen wollen und müssen drei Tage vorher ihre Koffer packen. Zwei Stunden vor Abfahrt des Zuges beginnen sie Reisekleidung anzuziehen, um dann eine Stunde vor Abfahrt auf dem Bahnsteig zu stehen und dann doch den Zug verpassen, weil sie kurz vor dessen Einlaufen noch mal rauslaufen, weil die Aufregung die Blase regt. Zu diesen Leuten gehört Alexander nicht. Der gehört zur zweiten Kategorie. Das sind die, denen es eine halbe Stunde vor der Abfahrt einfällt, daß sie reisen müssen. Die haben dann noch zehntausend Sachen eben zu erledigen, müssen Unterrichtsstunden und Termine umlegen, haben gerade Zeit, ihre Zahnbürste in die Westentasche und das Vortragsmanuskript in die Brieftasche zu quetschen und sich des nötigsten Kleingeldes zu vergewissern. Solche rasen zwei Minuten vor der fahrplanmäßigen Abfahrt des Zuges zum Bahnhof und - kriegen den Zug doch noch, weil dieser gerade zwei Minuten Verspätung hat. Zu diesem Typus gehört Alexander, mein Freund. Er ist fanatischer Bahnreisender. Einmal wegen Öko und so. Sagt er. Zum anderen, weil die Abfahrtstermine der Bundesbahn die einzigen sind, denen er sich beugen muss, weil er die anderen Termine seines Lebens selbst bestimmt. Und so kann er seinen wilden Kampf gegen die Unbeugsamkeit in sich gegen die Bundesbahnabfahrtstermine richten, die sich nicht nach ihm richten. Sage ich. Alexander braucht die Bundesbahn. Sie ist die letzte Fremdbestimmung in seinem Leben. Glaubt er. Deshalb benutzt er sie fanatisch, obwohl er zwei Autos, einen Chauffeur und eine „VIP" Karte besitzt (very important person), die ihm sogar auf Flughäfen einige Minuten sichern könnte, die das Flugzeug auf ihn warten lassen müsste. Nein, Alexander benutzt die Bundesbahn - eben weil die (noch) nicht auf VIP's reagiert. Doch heute erlebte ich mit, daß Alexander auf fremde Hilfe angewiesen war. Sein Haus glich vor einer Abfahrt immer einem, aus dem man gerade aus- oder in das man gerade einzieht. Es wurde gekramt und gepackt, gesucht und nicht gefunden, nach Schnürsenkeln und Diktaphon geforscht. Heute war Alexanders Haus die Hölle für zwanghaft Ordnungsliebende und der Himmel auf Erden für Chaoten. Es sollte eine besonders lange, eine besonders wichtige Reise werden, und die heimlichen Vorbereitungen von Alexanders Frau und Sekretärin erwiesen sich als nichts, als Alexander mitten in das Chaos brüllte: „Ich habe mich vertan: Der Zug geht in 20 Minuten! Bringt das Gepäck schon an die Straße und holt den Wagen aus der Garage!“ Alexanders Sohn raste in die Garage, und die Koffer wurden an die Straße gebracht. Doch Alexanders Auto streikte. „Holt ein Taxi!" schrie Alexander aus dem oberen Stock, wo er sich umzog, und Alexanders Frau rief den nahen Taxistand an. Als Alexander - angezogen neben seinem Gepäck an der Straße stand, aber kein Taxi kam, da wurde beim Bahnhofs-Taxistand angerufen, ob die sofort, umgehend. Sofort und umgehend startete ein Taxi vom Bahnhof. Doch mit dem Taxi vom Bahnhof bog auch das erste Taxi um die Ecke, und gleichzeitig ließ sich der Motor von Alexanders Auto aus der Garage aufheulend vornehmen. Dies war der Tag, an dem sich Alexanders Hochbegabung zum Management beobachten ließ. Denn im ersten Taxi ließ er das Gepäck transportieren, im zweiten Taxi seine Frau (Alexander liebt es, sich auf Bahnsteigen abwinken zu lassen) und erst im eigenen Wagen sich selbst. Alexander hat den Zug erreicht, Die Situation wieder mal beherrscht. Oder beherrscht der Zug Alexander? Lebenslang?

12. Juni 1990