Freiheit, die ich meine
Die, die ich meine, ist die Freiheit im Verkehr. Nicht im Verkehr der Menschen untereinander (ein Allgemeinplatz). Auch nicht die Besonderheit des Verkehrs der Geschlechter untereinander (eine zu große Besonderheit für diese Zeitungsstelle). Ich meine buchstäblich den Verkehr der Menschen im Uelzener Verkehr. Heute war nämlich keiner. Kein bisschen Verkehr. Nichts ging, weil alles mal wieder gleichzeitig verkehren wollte. Alle Geschäftsautos waren gleichzeitig mit allen durchreisenden Touristenautos unterwegs, alle Lkw-Trosse nahmen als Furt auf dem Weg nach Westen die Uelzener Innenstadt. Alle Busse im Linienverkehr waren gleichzeitig auf Tour mit denen der Reisebüro-Unternehmen. Und neben den landwirtschaftlich respektablen Mammutgefährten fuhren offenbar alle Sonntagsfahrer auch heute aus. Obwohl Alltag war. Ich stand im Stau - nein, ich war Teil des Staus (nicht meine Idee, ich erinnerte mich nur an ein Transparent über der Auto- bahn letzten Sommer: „Ihr steht nicht im Stau - ihr seid der Stau!", was ebenso peinlich wie wahr war). Und da fielen mir die Osterverkehr-Bilder ein, entführten mich aus dem Stau in Uelzen nach Nordafrika - in den österlichen Verkehr Tunesiens: War das eine Freiheit! Kaum hatten wir uns gewundert über den Mann auf dem Moped, dessen verschleierte Frau hinten und dessen Sohn vorne auf der Stange saßen- da kam auch schon ein Fahrrad mit vier Erwachsenen entlanggeklappert offiziell an den vielen Polizisten vorbei, die sonst alles kontrollierten. Nur nicht den Verkehr. Was wird der Mensch hierzulande bestraft, wenn er seine Liebste einmal hinten hat, hinten transportiert. Auf dem Fahrrad meine ich. Die dort dürfen einen Harem spazierenfahren - samt Schwiegermama, Oder die Freiheit der Nächte. Ich meine die Erfahrung, daß wir auf nächtlichen Rückfahrten in die Sahara oder nach Kartago zwar unser gelbes Franzosenscheinwerferlicht leuchten ließen, aber sonst offenbar keiner. Ob Auto oder Eselskarren - man fuhr mit kaputten Lampen oder ganz ohne. Oder der Eisenbahnübergang, über den sich die Schranken senkten, was uns das tun lässt. Was wir immer tun bei sich senkenden Schranken: Halten. Nicht so die Einheimischen Nord-Afrikas: Wildes Gehupe hinter uns, dann links und rechts überholende Fahrzeuge, die um die Halbschranke herum über die Gleise fahren, in drei, vier Spuren, Fußgänger dazwischen, mit blinkenden roten Warnlampen vor und hinter sich ...Und überhaupt die Freiheit vom eigenen Auto erst: Nie vorher war es mir so egal, ob meine (Leih)wagen Schrammen beigebracht wurden (drei bis vier täglich). Weil auch ich Spaß gewann, mir meinen Parkplatz oder Wendeplatz durch vorderes oder hinteres Wegboxen der anderen zu erfahren. Erfahrungen im buchstäblichen Sinne. Freiheiten, die ich damals anstaunte und die ich jetzt im Uelzener Stau ersehne. Raus hier, der eigenen Kreativität überlassen - oder zurück, wie man letztlich aber nach vorne kommt...Ja? Da war doch noch etwas - neben diesen romantisierenden Verkehrserinnerungen an Afrika? Die Verkehrsunfallrate dort ist berüchtigt. Und - keines unserer schönen, verhätschelten, überpflegten Autos würde ästhetisch noch genossen werden können. Weil wir nur in halbem Schrott dort fahren würden. Unser Kulturgegenstand Auto wäre futsch. Nein, leiden wir aus diesen verschiedenen Gründen lieber weiter. Und genießen den Stau.
12. Mai 1992