Sandwich-Generation
Eine „Sandwich-Platzierung" ist eigentlich der Rang gewesen, den ein Mensch in seiner Geschwisterreihenfolge einnahm. Die Sandwich-Plätze lagen dann wie beim essbaren Sandwich der Aufschnitt - zwischen dem ältesten und dem jüngsten Geschwister. Beispiel: Alexanders Mutter hat sechs Geschwister und ist die älteste, Sigrid ist die jüngste, die anderen sind auf Sandwich-Plätzen dazwischen. 'Doch in Alexanders Familie wird derzeit der Sandwich-Platz auch so definiert: Alexander lebt mit seiner Frau zwischen den zwei viertel- und halbflüggen Töchtern im Schulalter einerseits und seiner 77jährigen Mutter andererseits. Und beide die Töchter und die alternde Mutter sind abhängig von ihm und Alexanders Frau. Die einen sind es noch, die andere ist's zum ersten Mal. Während sich die Töchter unten gerade erst aus der Kindabhängigkeit zu lösen beginnen, wird die Mutter wieder abhängig. In der Zeit „zwischen Silvester und Neujahr", eigentlich auch eine „Sandwich-Zeit", weil sie zwischen den Jahren liegt, kam Alexanders Mutter zum dritten Mal binnen eines halben Jahres in das Krankenhaus. Erst war es Herzschwäche, dann ein Bruch, jetzt der Kreislauf - und von Mal zumal wurde die alte Dame verwirrter. Fragen wie „Wann darf ich wieder draußen spazieren gehen, Alex?" oder Haben wir auch genug Geld für das Wohnstift, Junge?" „Kannst Du mich hier nicht rausholen?" ließen Alexander zwischen den Jahren stiller werden, weil er begriff, daß eine alte, sehr alte Abhängigkeit sich umkehrte. Früher, ein halbes Jahrhundert zurück, da hörte er sich dieselben Fragen an seine Mutter stellen, wie seine Töchter sie ihm heute stellen - und gleichzeitig seine Mutter. Alexander ist jetzt mittendrin - in der Sandwich-Generation. In den Erholungspausen zwischen den Klinikaufenthalten lernte Alexander Brot für seine alte Dame zurechtschneiden, das zu harte Rinden für sie hatte. Er lernte mit ihr Gehen im Gips und später ohne. Er lernte die Nervosität kennen, als er seine Mutter beim Wohnstift vorstellte und darum bangte, ob sie noch gesund genug dafür sei. Kurz: Alexander lernte seine Mutter ernähren, lehrte ihr das Gehen und bangte um ihre Gesundheit für den Wohnplatz wie sie früher um ihn während des Staatsexamens. Silvesternacht wird bei Alexander am Kamin meist ein Märchen vorgelesen. Bei der Suche fiel ihm das Grimms Märchen ein. Hier ist es - für alle die, die auch Sandwich-Probleme haben: Es war einmal ein steinalter Mann, dem waren die Augen trüb geworden, die Ohren taub und die Knie zitterten ihm. Wenn er nun bei Tische saß und den Löffel kaum halten konnte, schüttete er Suppe auf das Tischtuch, und es floss ihm auch etwas aus dem Mund. Sein Sohn und deren Frau ekelten sich davor und deswegen musste sich der alte Großvater wieder hinter den Ofen setzen und sie gaben ihm sein Essen in ein irdenes Schüsselchen... Sa sah er betrübt nach dem Tisch und seine Augen wurden ihm nass. Einmal auch konnten seine zitterigen Hände das irdene Schüsselchen nicht halten und es zerbrach. Da kauften sie ihm ein hölzernes Schüsselchen für ein paar Heller. Wie sie wieder einmal aßen, trägt der kleine Enkel des Alten Brettlein zusammen. Was machst du da?" fragte der Vater. „Ich mache ein Tröglein, aus dem sollen Vater und Mutter essen, wenn ich groß bin." (Der alte Großvater und der Enkel). Die Nacht wurde kurz, in der Alexander mit seiner Frau und seinen Töchtern über dies Märchen nachdachte. Dafür ist dies neue Jahr noch lang, in dem man nicht nur Alexanders Mutter, sondern vielen anderen Menschen aus sogenannten „Randgruppen" zeigen kann, welche Schüsselchen und welchen Tisch man teilen kann. Und was heißt hier „Randgruppen" - in Kürze ist die Randgruppe von Alexanders Mutter eine Majorität der Gesellschaft. Wir sind es dann, die Alexanders, die diese Gruppe bilden. Es gutes neues, alterndes Jahr 1993…
12. Januar 1993