Autobahnadvent

Die Elbbrücken gerade hinter mir, die Harburger Berge noch vor mir - da stand dieser frech angemalte Kleinwagen rechts auf dem Seitenstreifen. Unerlaubterweise blinkte weder das Warnlicht dieses Vehikels noch war die Motorhaube geöffnet. Kein Pannendreieck - nichts. Es war Abenddämmerung, und unsere Autokarawane zog ähnlich langsam und zäh gen Süden, wie seinerzeit die Kamel-Karawane der Weisen aus dem Morgenlande sich durch den Wüstensand gen Bethlehem gequält haben mochte. Nur, daß die Kamele mit den Weisen darauf weniger gestresst gewesen sein dürften, als wir jetzt in unseren vier- bis sechszylindrigen Ersatz-Heimen auf sechs- und noch großspurigeren Bahnen. Ich gab meinem Helferdrang weniger nach als meiner Neugier, als ich aus der Klemme zwischen zwei Lastwagen ausscherte und sie mit ihren super-batteriebeleuchteten grellbunten Weihnachtsbäumchen auf dem Führerhaus weiterrollen ließ. Ich hielt meine Kutsche hinter dem Wägelchen, vorschriftsmäßig das Warnblinklicht antippend, das der komische Wagen vor mir nicht an hatte. Ich stieg aus, ging auf der Fahrerseite an den liegengebliebenen Straßenverkehrskollegen ran und sah Vielerlei auf einen Blick. Erstens: Der Kollege war eine Frau. Zweitens hatte diese Frau statt vier oder sechs Zylindern eine fesche Baskenmütze und darunter ein wahrlich schönes Gesicht: lange dunkle Haare, eine hohe Stirn und jene stolze Kopfhaltung, die ein wenig weniger stolz wirkte, als ich jene kleine Kartoffelnase mitten drin sah. Drittens aber und das war das Entscheidende - hatte sie das Radio an. Es war das berühmte Corelli-Weihnachtskonzert mit jenem langsamen Mittelsatz, den Pop-Fans gleich hinter „Stille Nacht, heilige Nacht" verabscheuen, Bildungsbürger jedoch mit jener Hitze lieben, die ihre Seelen wie Wachs aufweichen und dahinfließen lässt. Bevor ich etwas fragen oder anbieten konnte, legte sie den behandschuhten Finger auf den Mund und lächelte. Ich lauschte einige Sekunden mit ihr zusammen den Weihnachtsseufzern der Streicher. Dann mahnte ich bei ihr so rücksichtsvoll und bestimmt wie ich konnte die Realität an: Ich fragte laut und deutlich, was los sei. Außerdem fröstelte ich und empfand die vermuteten vielen Blicke der Vorbeifahrenden durch mein dünnes Hemd als Vorwurf. Sie begriff, daß ich ernsthaft zu Corelli in Konkurrenz treten wollte, drehte die Musik leiser und ließ mich doch tatsächlich meinen ganzen Spruch wiederholen, was denn los sei. „Das ist doch dieses neue Klassik-Privatradio, mein Herr," sagte sie ebenfalls erstaunlich bestimmt und gar nicht bedürftig. „Und die spielen seit der Innenstadt mein Lieblingskonzert. Eben dies..." – „Ich höre," sagte ich und fröstelte nicht mehr, sondern schlotterte. „Corelli und warum halten Sie hier?" „Weil“, sagte sie und lächelte, „weil dieser kleine Sender nur bis zur Süderelbe wirklich gut zu empfangen ist. Lassen Sie mich jetzt zu Ende hören - ist ja gleich Schluss." Und damit drehte sie die Seitenscheibe wieder hoch und - wie ich vermutete das Radio wieder lauter. Ich fuhr weiter und stellte dabei ebenfalls den Sender ein. Einige Kilometer noch ließ sich Corelli genießen. Dann vor dem Autobahnkreuz Maschen wurde Corelli tatsächlich eine Qual, und ich verstand die dunkle Schöne mit ihrer Musiksucht zu Weihnachten. Der Mensch zu Weihnacht muss nicht gleich Verkehrsgesetze übertreten, wie sie es gemacht hatte. Aber eines wünsche ich mir seit dieser Szene: Innehalten können in dieser Zeit. Denn „Innehalten“ ist das schönste Programm für diese längste Festzeit des Jahres.

11. Dezember 1990