Ein Puzzle für Großmutter

Entstanden ist das Puzzle unter Dorotheas Händen und Aufsicht im Werkunterricht der 6. Klasse der OS in Ebstorf unter Oberaufsicht von Herrn Gatz. Erst entstand die Sperrholzunterplatte mit einem Rahmen. Dann wurde eine Sperrholzoberplatte eingesetzt und wunderschön bemalt. Dorotheas Sperrholzbild stellte ein gelbes Feld dar mit einem großen grünen Baum (das gelbe Feld war Vincent van Gogh nachempfunden, der grüne Baum und die Sperrholzarbeit Herrn Gatz). Dieser grüne Baum wurde in 23 kleine Teilchen zersägt, übergemalt, lackiert und in den Rahmen eingesetzt. Fertig war das Puzzle. Außer, daß es fertig war, war es auch so schön, daß Dorothea es Großmutter nach Celle zum 75. Geburtstag schenkte als Hauptgeschenk. Schließlich liebte Großmutter Vincent van Gogh (Herrn Gatz kennt sie nicht). Sie liebt Bäume und ihr Leben, welches sie nun künftig mit dem Puzzle füllen können würde. Andere alte Damen legen Patience, Dorotheas Großmutter wird das Ebstorfer Puzzle spielen. Doch das Puzzle bewirkte weitaus mehr. Schon am ersten Tag seines Daseins als Hauptgeschenk. Es bewirkte dadurch viel auf Großmutters 75., daß es einfach wirkte als das, was es war: Als Ganzes, aus Einzelteilen bestehend. Als Ganzes, als wunderschönes Sperrholzbild, begab sich das Puzzle nach unten, in dem es vom überladenen Gabentisch fiel. Unten kam es in seinen 23 sorgsam gesägten Sperrholzteilen an, die nun Großmutter zwangen, sofort dasjenige damit zu tun, was man mit jedem Puzzle tun soll: Es zusammensetzen. Großmutter war aufgeregt und schob es dieser Aufregung zu, daß sie nicht einmal den braunen Stamm des grünen Baumes zusammensetzen konnte. „Machen Sie das doch bitte mal," sagte Großmutter in ihrer Not zu Frau Andreas aus dem Nachbarhaus. Denn sie wollte Dorotheas Puzzle als Ganzes auf dem Tisch stehen haben. Außerdem war Frau Andreas viel jünger und Puzzle erfahrener, denn sie hatte mehr Enkel und damit Puzzles aufzuweisen. Doch auch Frau Andreas scheiterte. Sie kam nur bis zum unteren Blattwerk des grünen Baumes. Dann resignierte sie. Außerdem klingelte es, neue Gäste kamen. Diesmal war die Werbe-Dame der Bank dabei, bei der Großmutter ihr Konto hatte. Weil diese doch mathematisch und logisch denken können musste, übertrug man ihr die Aufgabe, das Puzzle zusammenzusetzen. „23 Teile?" sagte die junge Dame von der Bank und stellte tatendurstig den Werbe-Blumenstrauß ab. „Früher schaffte ich 230 Teilchen in einer Stunde!" Doch auch unter Assistenz von Großmutter und Frau Andreas kam selbst die Junge nicht weiter als bis zum 15. Teil. Auch zusammen mit Frau Groscurth, deren Sohn im Abitur schließlich brilliert hatte, auch zusammen mit Frau Goldammer von gegenüber, die sogar ein eigenes Unternehmen kaufmännisch geleitet und am allermeisten Puzzle gespielt hatte aufgrund einer Unmenge von Enkeln sperrte sich das Puzzle. Schließlich war es aus Sperrholz und vielleicht eitler als man dachte. Jedenfalls war es komplizierter. Der Geschichte zweiter Teil ist hier zu Ende: Erst als Pastor Kirschner zum Gratulieren gekommen war und alle zusammen „Lobe den Herrn" gesungen hatten, in dem ja viel von Hilfe und Helfen die Rede ist - erst da kam man auf den hilfreichen Gedanken des team-works und setzte sich gemeinsam um Dorotheas 23 Puzzle-Teile. Mittlerweile war es eine stattliche Runde von Gästen. Aber die Hilfe kam von unten, nicht von oben. Denn weit unter dem Pastor und manchen älteren, langen Damen stand unter der Gästeschar Reinhold, der fünfjährige Enkel einer der Damen. Der nahm das Puzzle, als die Erwachsenen über ihm resignierten - und setzte es zusammen. In weniger als zwei Minuten. Die dritte Schicht dieser Geschichte ist eine wissenschaftliche, die ja manchmal durchaus mit echtem Wissen zu tun haben kann: Das Wissen, das die Menschen in einem langen Leben anhäufen - als Bank-Kauffrau, als Großmütter, als Pastoren oder eben Wissenschaftler - ist nicht einfach übertragbar. Selbst ein Sperrholz-Puzzle aus der Ebstorfer Provinz mit nur 23 Teilen will ebenso als ernstzunehmendes Projekt behandelt werden, wie eine trigonometrische Aufgabe oder ein Bundesjugendforschungswettbewerb. Reinhold - der fünfjährige war eben mit seinem Erfahrungsschatz dem Puzzle und dessen Lösung näher als all die erfahrenen Weisen um ihn herum. Oder: Es gibt eben nur eine Erfahrung, die man vermitteln kann: Man kann keine Erfahrung vermitteln. Die wichtigste Erfahrung mit Dorotheas Puzzle ist diese: Es wurde mit seinen 23 Teilen nicht nur von einem Unerwarteten zusammengesetzt. Sondern wegen des Puzzles setzten sich auch Großmutters viele Gäste zusammen - die sich auf diese projektorientierte Weise sonst nicht zusammengesetzt hätten. Nur aus Chaos heraus entsteht eben Ordnung. Aber Erfahrungen lassen sich ja nicht vermitteln.