„Nicht vor den Kindern auspacken!"

Es häuft sich: Der Haufen der Drucksachen wächst langsam, mit denen Firmen, Vereine, Parteien und faule Freunde, entfernte Verwandte und sonstige Entfernte Weihnachtsgrüße senden. Es wächst der Haufen der Rundbriefe von fleißigen Freunden und Verwandten, in denen sie derart umfänglich das Jahr Revue passieren lassen, daß ich mich gar nicht erst an die endlosen intimen Chroniken über Frischgeborene und Altwerdende, über Beruf und Liebesleben der Familie im zu Ende gehenden Jahr wage. Es häuft sich der Haufen der Doppelbriefe, in denen kleine Gaben Knicke und Huckel auf den Umschlag werfen, deren Befühlen Rätselraten und Vorfreude und Vermutungen auslösen. Vermutungen über das, was darin ist, werden beim Empfänger in dem Augenblick ausgelöst, wenn auf dem Packpapier oder Umschlag Zusatzvermerke vom Absender stehen. Ich jedenfalls erlebe mich sofort in Gedanken, wenn von Tante Ulrike, der Walküre der Familie, ein Paket kommt mit dem Aufklebezettel: „Vorsicht Zerbrechlich!" Keiner schenkt solch Filigranes wie Tante Ulrike. Womit sich wieder einmal bewahrheitet, daß der Mensch aus Extremen besteht, die gleichzeitig in ihm wirken. Gedankenarbeit ist auch bei dem Paket von Heiner und Alice angesagt: Die besitzen nämlich ein traumhaft florierendes Geschäft, in dem außer Alkohol in feinsten handgeblasenen Fläschchen auch Kunstgewerbliches verkauft wird. Und von dem, was sich an den beiden ersten Adventswochenenden als unverkäuflich erweist, finden wir als Freunde dann immer etwas im Paket unterm Baum: Zuerst waren es die Schnapsverschnitte. Seit wir aber im Dankesbrief vorletztes Jahr größere Freude ankündigten für den Fall, daß sie uns Nichtalkoholisches schenken würden, gab es im letzten Jahr zwanzig Teesorten, zehn davon gegen unreine Haut. Letztere schnappten die Töchter weg, die normal trinkbaren Tees vereinnahmte Christine, und ich bekam die hübschen altenglischen Dosen für Büroklammern. Keine Gedankenarbeit hingegen braucht es beim Päckchen von Onkel Johannes. Der ist Mitautor bei einem Jahreskalender für christlich lebende moderne Menschen, und da dies - zumindest in der Weihnachtszeit - plötzlich allesamt sein wollen, verschickt Onkel Johannes jeweils den neuen Jahreskalender für das bevorstehende Jahr. Der Renner aber ist das Paket von Großmutter aus Celle. Auf dem steht in großer, roter Filzstift-Schrift: „Bitte nicht vor den Kindern auspacken!" Ich bin nicht auf den Gedanken gekommen, auf den der Angestellte vom Paketdienst offenbar gekommen war. Denn er hat das Paket von Großmutter der Frau Harms, unserer Hausseele, die gerade vorn saubermachte, ausgehändigt mit den Worten: „Na, dann wünsche ich ein erotisches Fest!" Und als Frau Harms verständnislos reagierte, indem sie nichts sagte, fügte er noch hinzu: „Schöne Grüße von Frau Uhse!" Frau Harms hat mir dann das Paket überreicht. Mit spitzen Fingern und rotem Gesicht, weil sie nicht recht wusste... Dazu ist sie zu kurz bei uns und kennt Großmutter noch nicht. Ich habe ihr dann aber gezeigt, daß das Paket aus Celle stammt. Und außerdem von Großmutter, was aber nicht so stark entlastet wie die große rote Filzstift-Handschrift „Nicht vor den Kindern öffnen!" Die dürfte Frau Uhse nicht benutzen, wenn sie Erotica verschicken lässt - nämlich immer „im neutralen Versand“. Wie auch immer - jetzt wissen wir zumindest, was der junge Mann von der Paketzustellungsfirma selbst gern im Paket hätte.

10. Dezember 1991