WM oder Innere Wende

Ich kenne das: Dieses gewisse Kopfschütteln im Bekanntenkreis. Letztes Mal schüttelten sie die Köpfe, als ich zum Lese-Abend einlud. Das war letzten Mittwochabend, Deutschland gegen England. Kein Mensch wollte Brecht mit mir lesen. Jeder sah WM. Doch dieses Kopfschütteln geriet zum Aufschrei im Kollegenkreis, als ich denn zu einem Arbeitswochenende in die Heide einlud. Eigentlich sind meine Heide-Einladungen beliebt. Aber diesmal wurde abgewinkt: „Endspiel" lautete die Entschuldigung, und ich wurde das Gefühl nicht los, daß mich meine Therapeuten-Kollegen in Sachen Fußball für erkrankt hielten: Ignorant. Entfremdet. Doch war ich das nur bis zwei Tage vor dem Endspiel. Dann kam Friederike. Und siegte. Über meine Fußball-Ignoranz. Eigentlich ist Friederike auch kein typischer WM-Fan mit ihren acht Jahren und Vorlieben für Leises, Stilles, Kleines, Mikrokosmisches. Aber Friederike ist Schülerin der 2c. Und wer Vater eines Mitglieds dieser Klasse ist, der kommt um Fußball nicht herum. Es begann damit, daß Friederike mit zum Einkaufen wollte und kurz vor dem vertrauten Supermarkt darum bat, einen mir nicht vertrauten aufzusuchen. Dort gäbe es „diese Bilder". Ich dachte an Micky Maus oder Barbie-Puppe. Die Bilder jedoch zeigten meine Konkurrenz in Sachen Mann bei Friederike. Das Päckchen mit den elf Bildern zeigte elf männliche Schönheiten, schwärzer und muskulöser als ich je befürchtet hatte, also dem Gegenteil. Es war die italienische Mannschaft, die Friederike an ihr Mädchenherz drückte. Elf Männer für eine Mark. Ich freundete mich auf der Rückfahrt mit dem Gedanken an, mich mit dem italienischen Männertypus beschäftigen zu sollen anlässlich der WM. Mich sozusagen zu solidarisieren mit den Konkurrenten. Vielleicht würde ein Schatten der Idealisierung, die Friederike über die Italiener ausgoss, noch auf mich fallen. Ein letzter Schatten vor den kargen Zeiten, in denen ich der Pracht der Knaben würde weichen müssen. Doch zu Hause war nichts mit Idealisierung, nichts mit Italienern oder sonstigem Männertypus. Friederike klebte die elf Männer in ein wunderbar prächtiges WM-Album. Auf die Seite, die für Italien reserviert war. Logisch, daß sie mir die anderen freien Seiten zeigte: Österreich, Tschechoslowakei, USA, Argentinien, UDSSR, Rumänien - so viele Länder! Zu multiplizieren mit elf, Reservespieler nicht mitgerechnet. Wie Friederike erläuterte. Logisch. Mehr psychologisch war, daß sie am nächsten Tag abgeholt zu werden bat. Mit dem PKW von der Schule. Sie weiß, daß es ihrem Vater Freude macht. Diese Zuwendung. Doch eben diese war psychologischer Natur, und sie bat, den Supermarkt erneut anzusteuern. Eben den mit den Tüten und den Männern darin. „Hast du denn noch Taschengeld für die nächste Tüte?" fragte ich vorsichtig. „Irland," antwortete Friederike, „Irland ist dran. Nein, Geld habe ich nicht. Aber du schenkst mir doch sonst immer ein Eis. Das kostet eine Mark, also genau so viel wie Irland." Wir kauften Irland, klebten elf weitere Männer gemeinsam in das Album und kauften am nächsten Tag den Rest: Kamerun, Costa Rica - und dann bekam ich Schuldgefühle. Deutschland fehlte. Deutschland! Ich fuhr ein zweites Mal nachmittags zu jenem Supermarkt. Deutschland war ausverkauft. Ich fuhr unruhig nach Hause. Mit jenem Gefühl, das ich mal hatte, als ich eine Kommunalwahl geschwänzt hatte. Während Friederike einfach Männer sammelte, weil sie das Album ähnlich schnell füllen wollte wie ihr Briefmarkenalbum und ihr Herbarium, ihren Teich und ihren Kaufmannsladen, ergriff mich das Fieber, etwas wirklich eminent Wichtiges nicht begriffen zu haben, nicht erleben zu können. Abends saßen wir vor der Scheibe. Friederike und ich. Und sahen den Kampf um den dritten Platz. Das war Sonnabend. Und ohne Deutschland. Im Endspiel - da soll ich nicht etwa lauter geworden sein. So etwa, wie wenn ich mich über Bonbonpapier ärgere oder über ein Bild-Geschenk freue, nein: „Da bist du ausgeflippt!" sagte Friederike nur kurz und knapp wie es ihre Art ist. Gebrüllt hast du wie am Spieß. Und rumgefuchtelt," malte Dorothea aus wie es ihre Art ist. Es ist wahr. Ich bin vom Saulus zum Paulus geworden in Sachen Fußball. Und weiß, daß der Vergleich stark hinkt. Ich bin nun mal selbst kein Athlet, sondern nur ein Fan geworden.

10. Juli 1990