Das Osterlamm
Dem Lamm, das wir in fünf Tagen bei Nino als Osterbraten essen werden, sind wir vor einem guten Vierteljahr das erste Mal begegnet. Am Morgen des ersten Weihnachtstages beim Blick durch unser Wohnzimmerfenster, das den Blick auf die mattgrünen Weideflächen von Heiners oder Hildegards Schafherden lenkt. Da ich mir Weihnachten schon gewünscht hatte, Ostern ein Osterlamm zu essen, haben wir uns auf dem Spaziergang am letzten Weihnachtsmorgen gehütet, persönlichkeitsbezogene Kontakte zu den einzelnen Lämmern aufzubauen, etwa mit Streicheln oder gar Namensgebung. Die Kinder würden keinen Bissen herunterbringen Ostern. Und wir auch nicht. So blieb es beim Genuss dieses Bildes von den zahlreichen Lämmern, die kurz vorher geboren worden waren - sozusagen als Adventslämmer im buchstäblichen Sinne der Ankunft. Sie hoppelten staksig auf dem mit Raureif bedeckten weißlichen Grasland unter dem matten Blau des sonnigen Weihnachtshimmels zwischen ihren Schafmüttern hin und her, nuckelten mal an dieser und mal an jener Schafmutter-Brust, rempelten sich an und um. Mit einem Wort: Sie waren der Inbegriff von Weihnachten, von Christfest, von Krippe, von Mutter-Kind-Welten. Und gleichzeitig waren sie schon Osterlämmer, Tiere, die sich auf ihren Schlachte-Tod zubewegten und entgegentranken. Um die Wette. Nino wird uns eines dieser wonneweihnachtlichen Tiere von ehedem in fünf Tagen zubereiten als Festessen, und wir haben Nino um einen Platz in seinem Restaurant gebeten, weil nur Nino uns diese Festatmosphäre sichern helfen kann, die am wenigsten vom Festessen-Inhalt, dem Lammfleisch, abhängt. Außer man ist ein unkultiviert völlernder Esser oder ein fanatischer Gourmet, der vor lauter kulinarischem Sinn keinen weiteren mehr für die Kommunikation unter festlichen Menschen hat. Und dies besorgt Nino, der Italiener, wie keiner. Festmahl bereiten, ein Osterlamm zu essen gepaart mit festlichster Kommunikation. Nino singt nämlich. Nino singt nicht, indem er sich irgendwo hinstellt, in Pose, als Star. Nino singt immer. Wenn er Gärtnerdienste in unserem Seminar-Hotel versieht, hören wir ihn während der Seminarsitzungen draußen trällern. Beim vorbereitenden Arbeiten in der Küche pfeift Nino und beim Tisch decken mischt er Trällern und Pfeifen mit teilartikulierten Lauten. Hingegen beim Servieren - da schweißt Nino alle vorherigen Träller- und Pfeif-Fetzen aus Liedern und Arien in den großen Sinnzusammenhang eines Potpourris. Einmal habe ich Karpfen von Nino serviert bekommen: Ebenso liebevoll, wie Nino die wunderbaren Fleischflächen von dem Gräten-Skelett löste, sang Nino mit zwar verhaltener, aber deutlicher Bariton-Stimme „Reich mir die Hand mein Leben" (vermutlich kannte Nino den Karpfen auch von dessen Geschlechtszugehörigkeit). Kenner von Ninos Gesamtrepertoire sagen, daß Nino bei Wildspeisen glattweg die Hauptarien aus Webers Freischütz brächte und bei seinen Spezialzubereitungen von Spaghetti - Nino ist natürlich Italiener - circa 30-40 Arien aus dem klassisch-italienischen Opern-Repertoire. Ich will Ostern Lamm bei Nino speisen und deshalb habe ich mich auch erkundigt, ob Nino Kontakte zu einer der Herden vor unserem Haus hat. Habe er, sagte Nino, und summte gleich weiter im unterbrochenen Cosi fan Tutti-Melos. In fünf Tagen ist Ostern und wir werden uns das Osterlamm bereiten und wir wissen wo - im Gegensatz zu der Jüngerschar vor 2000 Jahren, die ihren Ort noch sucht, den wir schon kennen. Durch das Osterereignis, das die Gottesdienste ausmachen wird. Was die Freude an verschiedenen Osterfeuern, die störende Geister vertreiben helfen sollen, nicht mindern muss. Auch Weihnachten gab es zweierlei: Die Krippe drinnen und ein geborenes Lamm draußen. Dieses Zweierlei war bei uns zuhause in der Kindheit dadurch symbolisiert, daß über der Krippe ein kleines Kruzifix hing. So wie unser Lamm die beiden Feste ganz real verbindet, so verbindet dieses Kreuz hinter der Krippe die beiden großen Feste. Nur gesungen werden könnte an mehr Fest-Stellen als nur in den Kirchen und bei Nino während des Servierens. Es gibt noch mehr Gesänge als Choräle und Opernarien.
10. April 1990