Was Eisregen Gutes hat

Ich vermisse ihn manchmal, den Eisregen. Er ermöglicht eine Lebensqualität, ja Lust, die sonst nur Kinderkriegen oder bestimmte Gipsverbände ermöglichen. Ich meine, meine inzwischen wachsende Lust an der Langsamkeit, die der Eisregen dem Autofahrer aufzwingt. Kein Appell der Verkehrswacht oder Polizei zugunsten der Langsamkeit im Verkehrsleben ist so erfolgreich, kein esoterisches Buch über die „neue Langsamkeit" im Liebesleben als dem Verkehrsleben der Geschlechter ist so lehrreich, keine Musik-Interpretation im Kulturleben zugunsten der alten (langsameren) Tempi ist derart sensationell in der Wirkung auf unser Sensorium - wie Eisregen. Das Autofahren wird zum Schleichen, zum Entlangtasten, zur Streicheleinheit des Reifengummis mit dem Asphalt mit jener hauchdünnen Eisschicht dazwischen, die Hitzewellen im Fahrer auslöst. Bei mir nicht. Ich danke dem Eisregen ein Tempo unterhalb jeder Schnecken-Langsamkeitsrekorde, deretwegen ich die Umgebung gänzlich neu wahrnehme. Vor Altenebstorf schleicht mir ein Auto entgegen und eine blonde Frau grüßt mit Winken - und einem Lächeln. War sie's, war sie's nicht, die Alexandra vom Reitstall? Wann je beschäftige ich mich mit dem Empfang eines fraulichen Lächelns während der normalen Eil-Fahrt? Nach fünf Minuten bin ich fünfhundert Meter weiter gerutscht und sehe hinter der Kurve völlig neu entstandene Gebäude: Hübsche, bunte Häuser - mit Firmen-Namenszug „Schäfer". Nie gesehen vorher, daß Gegenwartsarchitektur die von Industriehallen manche private Wohnsilo-Bauten an Gemütlichkeit überholen. Außerdem wusste ich nicht, wie sorgsam die Samtgemeinde bei der Ansiedlung ist, daß sie nur Firmen mit Namen ansiedelt, die auch zur Heide und ihren Herden passen. Die Schnucken werden weniger, die „Schäfer"-Industrie gleicht aus. Weiter rechts gibt mir der Eisregen endlich die Zeit, gegenüber der Saatzucht auf dem Gelände des Automarkts mit dem gebrauchten Jaguar zu liebäugeln. Und dann rechts ab zur Schranke: Wann haben Georg oben in seinem Wärterhäuschen und ich schon mal Zeit, Winkgrüße auszutauschen? Nur der Eisregen machts möglich und eben das Kinderkriegen beziehungswiese Gipsverbände. Denn in Folge vom Zeugen habe ich dann den ersten Schritten der Kinder meinen Schritt (mühsam) angepasst und dabei Dinge am Wegrand entdeckt, Erfahrungen durchlebt, die nur die Langsamkeit ermöglicht. Manche Zeiten der Gehversuche mit einem geeigneten Gips bieten dieselbe Chance und Gedanken. Geradeaus gehts nach Wittenwater. Ach ja - wie's eigentlich Pommeriens geht? Und wir brauchen neue Kartoffeln. Vor dem Pflegeheim krieche ich an der 1000jährigen Eiche vorbei und schwöre mir (mal wieder), nächstes Mal auszusteigen und den Stamm zu umfassen. Letztes Mal waren die Kinder dafür noch zu klein beziehungsweise zu kurz. Die Straße nach Melzingen und weiter nach Uelzen ist gestreut. Ich höre es an dem Jaulen der Motoren der anderen. Und auch mein Motor heult auf. Weil ich Gas gebe. Bis zum nächsten Eisregen.

10. Februar 1998