Nicht zu glauben, aber wahr

„…Opa wird heut 70 Jahr!" Oder: „Meine Knutschi! Es liebt Dich immer - auch wenn er knatschig ist Dein Otto!" Oder: „Es gratulieren zu Deinem heutigen Geburtstag Deine Kolleginnen von der Verkaufszentrale!" Oder: „Da staunt Ihr, Opa und Oma, nicht? Aber an Eurem Goldenen Hochzeitstag sollt Ihr Euch auch einmal in der Zeitung sehen! Alles Gute wünschen Euch..." Und dann folgen die einzelnen Menschen oder Gruppenabsender, die mit derlei Anzeigen ihre verschiedenen Arten von Liebe zeigen. Der Anzeigen-Markt für diese Art von Liebesbeweisen ist sprunghaft im letzten Jahrzehnt gestiegen, und er ist noch lange nicht gesättigt. Nicht nur die AZ, sondern auch andere Zeitungen von A bis Z füllen sich mit Anzeigen, in denen angezeigt wird, wer wen wie liebt. Insofern ist dieser Liebesmarkt das Gegenteil vom anderen, älteren Liebesmarkt, dem Heiratsmarkt. Dort suchen wir erst diejenigen, die wir lieben können. Im neuen Liebesmarkt („Huhu, Schätzchen auch Dein alter Tanzstundenherr gratuliert Dir heute zum Jubeljahr!") inserieren die, die einen bereits erwählten, einen geprüften, einen überprüften Partner hochleben lassen. Anzeigen dieser Art sind sozusagen ein öffentliches Zertifikat, daß die Beziehung sich bewährt hat: „Hallo - Partner! Schön, daß es Dich gibt!" Der alte Liebes- markt („Er - dynamisch, erfolgreich, bester Jahrgang - sucht Sie, möglichst Großraum Hamburg, gern mit Kind, aber ohne Nikotingenuss") rief, sich selbst (an)preisend, in den dunkeln Wald und wartete auf Echo. Der neue Liebesmarkt lebt vom Echo, das aus dem dunkeln Wald zurückschallt und preist umgekehrt den anderen. Er ist zudem generationsübergreifend, unser neuer Liebesmarkt: Da bestätigen sich Junge und jüngste Jugendliche, allein und in Gruppen, daß sie sich mögen („Hallo, Uschi - da staunste, was? Aber Du bist nun mal Spitze! Meint - Deine Kanu-Besatzung") Und älter gediente und altgediente Profis in Sachen Liebe tun dasselbe, wenn sie sich zur Silbernen Hochzeit bestätigen: „Ich würde es wieder tun - mit Dir! Dein Werner". Und darunter prangt eine „25", von einem gedruckten Herz gerahmt. Während der alte Liebesmarkt zudem auf ewige Bindungskraft baute („Zweimal geschieden - jetzt suche ich den Partner für den Rest des Lebens...") ist der neue Liebesmarkt realitätsnäher: Da gratuliert eine Kollegengruppe der Brauerei einem ihrer Fahrer („Unser Ernst fährt am längsten und besten - 10 Jahre im Betrieb und immer noch kein Führerscheinentzug: Wir gratulieren!"). Oder eine in den Klassenlehrer verliebte Berufsschul-Klasse gleicht den Verlust ihres Idols (durch dessen Heirat) mit einer übergroßen Anzeige aus: „Behandeln Sie ihn gut (Name der künftigen Frau) - wir verzichten nur schweren Herzens und nehmen ihn auch gebraucht zurück!" Zuwendung, Liebe, rührende Zartheit oder Plattitüde - Aufmerksamkeit in jedem Fall. Aufmerksamkeit dem gegenüber, den die Inserierenden zum Thema machen. Und Aufmerksamkeit, die man als Inserierender von demjenigen dafür bekommt, daß man für ihn inserierte... Und das Schönste an dem neuen Liebesmarkt ist: Man kriegt noch die Aufmerksamkeit der anonymen Öffentlichkeit, der Leser der Zeitung. Alle, alle lesen ihn - den Namen dessen, der in das Zentrum gerückt wird. Und den oder die Namen derer, die ihn oder sie in das Zentrum rücken.

9. April 1991