Lebensgefährdende Schule
Dorothea bringt ein Formular aus ihrer neuen Schule mit, das ich unterschreiben soll. Das Formular betrifft nicht speziell Dorotheas Schule - alle Schulen müssen ihren Schülern dieses Formular zur elterlichen Unterschrift mitgeben. Und es lässt auf einen noch viel gefährlicheren Schulalltag Rückschlüsse zu, als ich ohnehin schon in der deutschen Schule befürchte: Ich soll unterschreiben, daß ich als Erziehungsberechtigter Dorothea verbieten werde, Waffen in die Schule mitzubringen. Sie sind genau aufgeführt mit dem Wortlaut des Bundeswaffengesetzes: Sie darf keine Fall- oder Springmesser, Stahlruten, Totschläger und Schlagringe mitbringen. Auch keine Schreckschuss-, Reizstoff- und Signalwaffen sowie Gassprühgeräte und Hieb- und Stoßwaffen. Außerdem sind verboten für den Schulalltag: Munition jeder Art, Feuerwerkskörper, Schwarzpulver und überhaupt Chemikalien, die explosive Verbindungen ermöglichen. Was mich entsetzt: Ich ahnte bisher nur, daß Schule gefährlich, nicht aber, daß sie, inzwischen längst lebensgefährdend ist, das Leben meiner Tochter, schließlich ein Teil meiner selbst, bedrohend! Nach der Erfahrung, daß Gesetze immer erst formuliert werden, wenn es zu spät, das heißt passiert ist, müssen also alle diese Waffen schon in die Schulen der Nation mit- und zur Anwendung gebracht worden sein! Und ich saß freudig-bänglich bei der Einweihungsfeier in Dorotheas Schule - jetzt kann ich mir den bänglichen Anteil meiner Gefühle erst ganz erklären: Es muss die Unmenge von Waffen gewesen sein, die ich in der Aula spürte, von der ich aber nichts Genaues wusste. Jetzt erinnere ich mich wieder der älteren Schülerin links neben mir in dem weiten Rock: Wer trägt schon normalerweise Rock? Waffentransport für den beginnenden Unterricht könnte es gewesen sein. Oder der Bengel auf dem Parkplatz, der um mein neues Auto herumstrich ich dachte, er bewundere es oder mich. Hatte auch er...? Aber diese Phantasien sind vermutlich noch harmlos, denn der Erlass des Kultusministers stammt von 1967, und da die Welt sich noch verschlimmerte in Sachen Waffentechnologie und Brutalität, dürfte das Arsenal von heute viel Perfideres umfassen als die obige Aufzählung. Wie muss es in den Elternhäusern der Mitschüler von Dorothea zugehen, daß dieser Erlass nicht gelassen wird, sondern gilt? Ich gehe die wenigen mir bekannten Elternhäuser durch und finde nur vergleichsweise harmlose. Also müssen es die mir unbekannten Elternhäuser sein, in denen die Waffen gehäuft und die Kinder daran trainiert werden. Zum Angriff auf die Schule und in der Schule. Etwa der Vater dieser einen Mitschülerin - er ist ein etwas zu leidenschaftlicher Jäger - ob der vielleicht nur die Spitze seines Eisberges zeigt? Eines dieser stillen Wasser? Ein weiterer Rückschluss ist, daß Waffen in diesem Umfang ursprünglich nur deshalb in die deutschen Schulen mitgenommen wurden, weil es für Schüler genügend Grund gab, sich wehren zu müssen. Liegt der wahre Grund für das Verbot der Waffen in der Sorge der Lehrerschaft um ihr Machtmonopol? Sollen in den Kollegiums-Schlachten und Elternabend-Kämpfen Ungleichgewichtigkeiten vermieden und die Waffen der Schule von vornherein unbesiegbar bleiben? Mich packt die Angst, wenn ich zum Schluss lese, daß dieser Erlass den Schülern jeweils zum Eintritt in die 1. und 5. und 7. Klasse bekanntgegeben werden muss. Und ich hielt die Kinder für Kinder. Wer sagt mir, daß Dorothea und Friederike oben in ihren Zimmern nicht heimlich Waffen horten und aufrüsten? Mit den beiden vom letzten Silvester liegengebliebenen Papierraketen. Oder mit meinem Fahrtenmesser aus der CVJM-Zeit. Oder dem zugegeben - illegal beschafften Gift gegen unsere Maulwürfe. Es gibt Möglichkeiten gegen meine Angst: Verbünden mit den anderen Bedrohten. Oder Identifizierung mit den Aggressoren. Ein Lichtblick ist, daß die Schule von Dorothea in Bad Bevensen ausdrücklich das Kooperative in ihrer Bezeichnung als Schild führt (obwohl auch ein Schild schon auf Waffen hinweist). Das Defensive daran zumindest lässt hoffen. Man stelle sich vor, wie dieses heiße Eisen erst an all den anderen Schulen geschmiedet wird, die nicht kooperativ sind...!
8. Oktober 1991