Petri
„Petri" - so heißt die rote, kleine Kugel mit vier Rädern auf unserem Rasen vor dem Holzschuppen. Petri ist die Folge des frisch erworbenen Führerscheins von Dorothea, der ihr bescheinigt, daß sie den Ernst des Lebens im Straßenverkehr ausreichend begriffen hat, um sich an ihm zu beteiligen. Petri ist ein Auto. „Petri" ist nicht nach dem Schutzpatron der Angler und Fischer getauft worden, die in allen Zeiten und Ländern vor unserer Zeit als besonnen; ruhig und introvertiert galten. Dieser „Petri" wurde nach jenem Mini-Dinosaurier getauft aus dem Film „In einem Land vor unserer Zeit". Das Auto „Petri" - und das erste eigene allemal - ist sozusagen das absolute Gegenteil von diesem Film-Saurier Petri: Es ist ein Symbol für alle Länder unserer Zeit. Den glucksenden, weil verschluckten Glücksschreien und anschließenden Juchzern von Dorothea nach zu urteilen, die sie abgab, als die kleine rote Kugel auf die grüne Wiese vor ihrem Fenster rollte, ist der Eintritt in das Teilnehmernetz im Straßenverkehr noch wichtiger als Einschulung, Konfirmation, 18. Geburtstag zusammen. Meine Güte, wie oft sprechen wir von „Eintritt in das Leben", zumindest von neuer wesentlicher Epoche im Leben! Dabei ist offenbar nichts auch nur annähernd vergleichbar diesem Ritual um Führerschein und erstes Auto. Die Welt gehört einfach demjenigen komplett und ungeteilt, der dies Gefühl zum ersten Mal hat: Ich fahre selbst! Solche überschwemmende Omnipotenz fühlte unsereins früher - in den Zeiten vor unserer Zeit - nur bei erster großer Verliebtheit, erster Gehaltsüberweisung, erster Meditationserfahrung, erster Kindgeburt je nach Mentalität und Sensibilität und Esoterik. Ich fühlte dies Gefühl, als Onkel Martin mir sein Wandererfahrrad (Baujahr 1936) für zehn Mark verkaufte und ich damit in die erste umfassendere Mobilitätsdimension - die Kirchstraße entlang raste. Vorher war ich nur mit meiner Hüftschiene gerast. Natürlich sind Dorothea wie Friederike wie alle heutigen Kinderchen autoerfahren seit der Schwangerschaft. Gar manche erlebten das Auto als Ort und zum Zeitpunkt ihres Gezeugtwerdens. Statistisch entstanden und entstehen immer mehr sogar signifikante Quoten von unserer menschlichen Gattung direkt im Auto. Siehe der alte Witz: Adam und Eva liebten sich in einem Ford...Später als Jugendliche wächst die Autoerfahrenheit, indem sie in einem solchen von Mama oder den ersten Freunden (mit Führerschein) transportiert werden: Zur Geigenstunde in Gerdau, Schulorchester in Uelzen, Discoabend in Lüneburg, Klassen-Sit-In beim Schulsprecher, zahllose Partytimes, Gorleben - unter anderem Demos, Rücken- und kiefernorthopädische Termine da und andere Gesundheits- und Schönheitstermine dort (bei Töchtern zusätzlich: Hautarzt- und Friseurzeiten) und alles jeweils 15 bis 20 Kilometer entfernt. Nichts von dieser Welt nach jener frühen des kleinen Dinosauriers Petri wird erlebt, ohne es mit dem Auto erfahren zu haben. Dorotheas Auto ist der heftigste Wunsch ihrer Mutter gewesen. Mit „Petri" geht Christine in den ersten von den verschiedenen Ruheständen, die das Leben so bringt. Christine ist völlig alle, müde, erschöpft - von demselben Zustand des Auto-Fahrens, worüber Dorothea ihr Jauchzen verbreitet. Es wird ihr vergehen. Dann, wenn sie ihre jüngere Schwester Friederike zu deren Terminen in aller Uelzen-Welt fahren muss. Und weswegen „Petri" beiden gehört und von den Eltern anders, nämlich „Kinderwagen" getauft wurde. In meinem Eltern(pfarr)haus wurde bei den von der Kfz-Stelle vergebenen Autoschild-Nummern immer sofort im Gesangbuch nachgeschlagen, mit welchem Lied das neue Auto wohl fahren werde. Dorothea wird dies wohl nicht tun mit ihrer 279. Aber fahren möge sie wohl. Petri Heil!
8. April 1997