Vom richtigen und falschen Grüßen
„Entsetzlich, dieses Tschüs-Sagen", soll Mamas Nachbarin während der nachfolgenden Tasse Tee gesagt haben nachdem ich gegangen war. Erzählte Mama ganz nebenbei. Dieses „Tschüs", so die Nachbarin, sei respektlos, faul und krampfhaft jugendlich. Auf der Straße höre sie es, bei Schulkindern, bei ihrer Friseuse, im Bus und neuerdings werde diese Unsitte offenbar auch unter „gestandenen Herren" gepflegt. Das galt mir. Weniger der gestandene Herr als das „Tschüs", welches auch zu meiner bevorzugten Abschiedsgestaltung gehört, und „Tschüs" hatte ich ganz sicher auch der alten Dame gegenüber gesagt. „Tschüs, altes Jahr!" hatte Friederike vor einer guten Woche am Silvester-Abend gesagt, als wir um Mitternacht auf der Terrasse standen und die Sterne am Himmel von den Leuchtraketen zu unterscheiden versuchten. Wären wir Süddeutsche gewesen, hätte Friederike vermutlich die schwäbische Fassung von „Tschüs" genommen: „Tschüsle". Wären wir noch weiter südlich aufgewachsen dann hätten wir „Tschau" zum alten Jahr gesagt. Eine Unsitte? Eine Respektlosigkeit? Krampfhafte Jugendlichkeit? Oho meine kurze Sprachforschung ergab das Gegenteil. Mamas Nachbarin hat keine Ahnung, wie konventionell, wie traditionsgebunden, ja, wie fromm der Hintergrund für „Tschüs“ oder „Tschüsle" oder „Tschau" ist. Wenn sie das wüsste, würde sie mit „Tschüs" grüßen, denn Mamas Nachbarin ist alles zusammen: konventionell, traditionsgebunden und zwar nicht fromm, aber immerhin im Kirchenvorstand. In einem Kirchenvorstand zum Beispiel wäre nach Meinung von Mamas Nachbarin vermutlich „Grüß Gott" angemessen. Wenn, ja, wenn dieses nicht zu süddeutsch klingen und die Gefühlsgrenze zwischen dem Norden und dem Süden, zwischen Preußen und Nichtpreußen, zwischen Menschen und anderen Lebewesen anklingen lassen würde. Doch genau da liegt der Hund begraben und die Nachbarin schief: Denn das altväterlich vertraute „Grüß Gott" ist sozusagen im 1. Grad verwandt mit „Tschüs", so erzählt der theologische Hobby-Sprachforscher Biermann, sprach sich noch vor rund 40 Jahren „Adschüs" aus, welches eine vertrauliche Verkleinerung von „Adieu" darstellte. Schreiben wir dies „Adieu" korrekt Altfranzösisch, kommt heraus: A Dieu. Zu deutsch: Mit Gott. „Ade" ist wiederum nur eine Verkleinerung der Verkleinerung, und die vornehme alte Tante da in Mamas Nachbarwohnung, Pardon: Mamas Nachbarin und Teegenossin, gefiel sich, das erinnere ich genau, darin, „Ade" dann zu sagen, wenn sie besonders vornehm sein wollte. Dabei nutzte sie die Vorläufer-Stufe von „Tschüs", bereitete diesem sozusagen den Weg. Jawohl. Von Tschüs zurück zu Adschüs oder Tschau, von dort zum A-Dieu und zum Ade sind es winzige Schrittchen zur deutschen Übersetzung in „Grüß Gott" oder „Behüt Dich Gott", was nur die Bayern in vermeintlich derbes Heidentum umwandeln, wenn sie „Pfüat di (Gott)" murmeln, was Mamas Nachbarin, dieses Teilbildungs-Opfer, als „Pfui" versteht und entsprechend als Verhöhnung. Dabei ist sie durch den Bayern, der ihr ein „Pfüat di" zuruft, ihrem verhasste „Tschüs" ganz nah. Und dem lieben Gott, dem sie sich dann so fern glaubt, auch. Sie hat keine Ahnung, diese Schreckschraube neben Mama, Pardon: Ich meine diese Dame, die glaubt, sich benehmen zu können. Dabei tun wir anderen es nicht minder als ihre Enkel, ihre Friseuse, die gestandenen Herren, wenn wir „Tschüs" sagen. Unser nordisches „Moin", möglichst noch faul und abgewandt vor sich hingemurmelt und nicht für den anderen - das wäre ein Grund, sich unhöflich begrüßt oder verabschiedet zu fühlen. Aber auch das ist es nicht. Denn „Moin" ist für manche hiesigen Bürger die mögliche Höchstform von Zuwendung und Höflichkeit. Aber es hat eben keine Ahnung, dieses Biest neben Mama, das mich früher schon, als ich über das Balkongeländer kletterte, umerziehen wollte. Es hat genauso wenig Ahnung vom Gruß wie alle die, die sich der Kirche und/oder dem lieben Gott fern fühlen - und ihn bei jedem „Tschüs" genauso herbeirufen, wie wenn sie gleich „Behüt Dich Gott" sagen.
8. Januar 1991