Chefsache

Als ich die Konzert-Anzeige las, fiel mir Christines heiße Liebe zu Klavierabenden ein - und meine Schuldgefühle gegenüber Franz Schubert, für den ich in seinem jetzigen Jubiläumsjahr noch rein nichts als Bildungsbürger tat. Hinzu kam, daß dieser Klavierabend in der Klosterkirche Medingen stattfinden sollte, und Konzertangebote in Kirchen erinnern mich fatalerweise auch noch an jene anderen Schuldgefühle gegenüber Mutter Kirche, die in puncto Besuchsfrequenz das Schicksal manch anderer Mütter teilt, die heute in Altenheimen und Seniorenresidenzen leben. Ein Kirchenkonzertbesuch würde gleich von mehreren Schuldgefühlen entlasten. Außerdem steht in meinem Kalender Traumhaftes: Nichts steht da. Eine Nische. Also wähle ich die Nummer des Büros, das für den Kartenvorverkauf ausgedruckt ist. Nichts. Es ist Abend und außerdem Wochenende. Das Abendkassen-Angebot annehmen? Zu riskant, weil sicher noch zahllose andere Menschen Schuldgefühle gegenüber Schubert und ihrem Kirchenbesuch hegen oder echte Liebe zu diesem Pianisten fühlen. Abends gibt es sicher keine Karte mehr. Und wenn welche zu haben sein sollten - Anstehen in einer Schlange habe ich nie richtig trainieren können. Deshalb werde ich in und von allen Schlangen dieser Welt ständig überholt. Justus Franz heiße ich auch nicht, der eine eigene Tante in Medingen besitzt, die was machen könnte. Solche und andere Phantasien brauchen Zeit und resignieren. Aber Christine zuliebe bzw. wegen deren Liebe zu Klavier (pianisten) wähle ich - mit wenig Hoffnung auf Kontakterfolg - eine Nummer unter „Klosterverwaltung". Und es passiert, was die Erfahrung lehrt: Erst in der Resignation hilft Mutter Kirche bzw. einer ihrer irdischen Repräsentanten weiter. Oder psychologischer: Keine oder geringe Erwartungshaltung führt zum besseren Erfolg: Eine freundliche weibliche Stimme nennt ihren Namen. Und fragt, ob sie mir helfen könne. Eine wahrlich urmütterliche Wendung der Dinge! Ich erinnere halbdunkel den Namen der Dame und frage nach- und richtig: Die Dame an dieser Verwaltungsnummer war nicht nur mütterlich, sondern die Mutter Äbtissin des Klosters. Sie lässt die Verwaltungsnummer an Wochenenden schlicht zu sich umstellen. Die Kartenvermittlung, die Vorverkaufsfrage - alles war mit dieser Dame, einer wirklichen Klostermutter, gelöst. Frau Äbtissin macht selbst solche Sache wie meine Karten-Sache zur Chefsache. Chefsache - das ist in der Regel Geheimes, Wichtiges; Höchstverantwortetes. Chefsache kann auch sein wo die Chefs einspringen und Dienste verrichten, die man früher die ,,niederen" nannte. Ich werde künftig nicht mehr murren und mit meinem Schicksal hadern, wenn ich kurz vor Veranstaltungsbeginn in meinem Institut sehe, daß in den Toiletten kein Papier nachgefüllt wurde. Und dies dann bisher fluchend und in aller Eile nachhole, indem ich die Toilettenpapier-Rollen bei der Musikwissenschaft im unteren Stock klaue und bei uns aufstecke. Nein, ich werde mich an die kartenvermittelnde Mutter Äbtissin in Medingen erinnern und künftig ohne Murren schon mit aus der Ersatz-Papierrollen Heide nach Hamburg fahren. Chefsachen...

7. Oktober 1997