Weihnachtsgeschenk mit Spätfolgen
Jedes Geschenk hat Folgen. Der Beschenkte zieht es an (wie ich den Mantel, den mir Christine geschenkt hat, um meine allmähgliche Verwahrlosung im altgeliebten Mantel aufzuhalten). Oder er sieht es an (wie Onkel Ulrich - ein Preußen-Fan sein neues Fachbuch über altes Preußen, sein 27. Preußenfachbuch übrigens). Oder die Beschenkte schluckt das Geschenk herunter (wie Tante Hiltrud den ebenso liebevoll selbstgemachten wie entsetzlich schmeckenden Eierlikör ihrer Schwester). Dorotheas Weihnachtsgeschenk, ein „teen-relevanter" Schreibtisch in Naturholz, aber schlägt den Folgen-Rekord. Vor Weihnachten stand das Ding zunächst in seinem Riesenkarton versteckt in der Garage, bis es Heiligabendmittag zur schnellen problemlosen Sofortmontage hinter die Weihnachtszimmertür geschleppt wurde von Christine und mir die ersten Meter, zusammen mit Onkel Ulrich die Treppenstufen hinauf und schließlich zu viert mit Tante Hiltrud, die bis dahin zugesehen und Kritisches zu den Körperkräften einer Kopffamilie geäußert hatte. „Schnelle problemlose Sofortmontage" stand auf dem Karton, und wegen dieser hatten wir diesen Tisch gewählt. Die Montageanleitung umfasste 4 DIN-A-4-Faltseiten, die zwei Tütchen mit den Schrauben und Nägeln beinhalteten insgesamt acht verschiedene Größen von Schrauben (64 Stück) und diese zudem in einer uns bis dahin völlig unbekannten Gattung (in sich selbst nochmals drehbar). Das angekündigte Tütchen mit dem Werkzeug fehlte, und die Zeit rann dahin: Die Christvesper sollte in drei Stunden beginnen und Weihnachten nicht ohne Christvesper und Schreibtisch. Deshalb füllte sich das Vorfeld des Heiligen Abends mit Stress und einer gewissen Labilität der allgemeinen Feststimmung. Im besonderen sank die Meinung über vorgefertigte, sofort montierbare teen-geeignete Schreibtisch-Fabrikate und Lieferanten. Am klarsten schälte sich jedoch (bei Tante Hiltrud ebenso wie bei Onkel Ulrich und mir sowieso) die Meinung heraus, daß keine Berufsgruppe derartig irreführenden Schwachsinn formuliere wie die Autoren von Montageanleitungen. Besonders für problemlos und sofort mögliche Montagen. Denn ich habe sie studiert, diese Sofortmontage-Anleitung problemloser Art rückwärts und vorwärts. Ich habe sie das erste Mal studiert vor der Christvesper, um mich noch während derselben innerlich von links feststellbaren Flügelschrauben mehr gefesselt zu fühlen als von Engelsflügeln in Lied und Krippe. Ich habe dieselbe Montageanleitung am zweiten Weihnachtstag weitere zweieinhalb Stunden studiert und es schließlich geschafft. Doch dann musste dieser Schreibtisch im Weihnachtszimmer 48 Stunden nach seinem Zusammenbau wieder auseinandergebaut werden, denn nur in Einzelteilen passte er die enge Treppenwindung hoch, an deren oberen Absatz wir (Onkel Ulrich, Christine und ich) ihn erneut zusammenbauten und fluchten. Was sagte Tante Hiltrud, die sich uns gegenüber beim zweiten Zusammenbau wieder auf die rein verbale kritische Beratungsebene zurückzog? Zurückzog? Sie sagte, sie habe ihre Meinung geändert: Diese Familie sei, was Handwerk anbeträfe, ein hoffnungsloser Fall. Außerdem sagte Tante Hiltrud - aber dies nur zum Schluss, bevor sie flüchtete vor unserem sich häufenden Schweigen - außerdem sagte sie tröstend: „Kinder, der Weg ist das Ziel- und nicht das Produkt". Ein gutes Motto für das neue Jahr. Außerdem hatte sie recht: Noch nie war ich Onkel Ulrich so nahegekommen wie während der insgesamt sechseinhalb Stunden Sofortmontage.
7. Januar 1992