Hartmuts Problem
Vetter Hartmut lebt in einer patchwork-family. Auf deutsch heißt das: Er lebt nach seiner Scheidung mit einer neuen Frau und deren Kindern, die nach ihrer Scheidung von ihrem alten Mann mit dessen Kindern noch einen Versuch wagt: Mit Hartmut. So wie umgekehrt er es auch wagt. Das Risikopotential mit seiner neuen Eva, sagt Hartmut, ist viel kleiner als das Risiko mit deren Kindern, die nun auch seine sind. Sagt Hartmut, der sehr verantwortungsvoll lebt. Und gestern besorgt fragte, ab wann Kinder als süchtig bezeichnet werden. Bildschirmsüchtig. Die neuen Kinder in seinem Leben sind keine mehr. Sie sind 13 und 15 Jahre uralt und deshalb werdende Männer. Sie lassen Hartmut das immer wieder wissen, wenn er sie einlädt zu irgendetwas außerhalb des Hauses. Als Ausgleich zum ewigen vor-der-Glotze-Sitzen. Was Hartmut nervös macht. Weil es nicht gesund ist. Aber Hartmut verführt umsonst. Faltbootfahren auf dem Kanal? Och nö, da ist die neue Play Station (Ostereigeldgeschenk der einen Großeltern). Oder eine Sandkuhlen-Tour mit den neuen Bikes, die von den anderen Großeltern finanziert wurden? Auch nee dagegen stehen eingetauschte brandneue Videospiele. Oder einfach Mensch ärgere Dich nicht"? O je, nein niemals mehr. Nintendo 64" sei dran? Was ist das? Ach so - auch was mit Bildschirm. Der besorgte Hartmut lässt sich aufklären über die Karriere zur Sucht. Süchtig können wir von allem werden? Von allem! Auch vom Bildschirm. Aber ist Sucht noch Sucht, Krankheit noch Krankheit, wenn sie alle trifft? Je mehr Leute denselben Rechtschreibfehler machen, desto mehr beeilt sich der Duden, hinterherzukommen und den Fehler ab sofort für richtig zu erklären. Ich berichte Hartmut von einer Studie über Bildschirmnutzer: Hirnphysiologen der Stanford-University in Kalifornien wollen Folgendes festgestellt haben: Der Frontalhirnlappen hat sich in den Köpfen derjenigen jungen US-Amerikaner-Generation ungewöhnlich verändert, die alles Wissen der Schule und Hochschule über PC lernen (45 Prozent des Unterrichts). Später 8 Stunden am PC-Arbeitsplatz sitzen, um danach erschöpft in der Freizeit TV zu sehen oder Video oder ihre Stations zu playen. Der Monitor verändert auf Dauer unseren cortex, unser aller Hirnkastl. Weshalb die Definition „Bild- schirm-Sucht" eines Tages schwierig wird (siehe Duden). Denn dann ist das Wahrnehmungsfeld des modernen Menschen durch jenen Frontalhirnlappen so eingeschränkt, dass es nur noch den Ausschnitt Monitor erfasst. Nichts mehr daneben, darüber, darunter, dahinter. Sagt die Wissenschaft an Stanford. Hartmut tut mir leid. Ich konnte ihm nicht raten. Deshalb lade ich ihn ein, mit mir einen der seltenen Biergärten der Ostheide heute Abend aufzusuchen. Aber Hartmut kann nicht. Er muss heute Abend mit seinen neuen Kindern einen neuen Serienbeginn im TV sehen. Nach den Nachrichten, auf die Hartmut süchtig ist.