Osterbräuche an der Grenze
„Mein Lieber", hieß es bei uns früher mahnend, wenn irgendeine Frechheit in gefährliche Nähe von Unverschämtheit geriet. Oder wenn eine pikant-riskante Bemerkung sich der Gürtellinie näherte und damit tiefer abzurutschen drohte: „Mein Lieber- das liegt an der Grenze!" Diese Grenze meinte John nicht, als er die Szene mit dem Hasen an der Grenze erzählt: Freund John (er erlebt wunderbare Geschichten) war an der schweizerisch-französischen Grenzstation vorgefahren und war zu schnell herangefahren. Ein Palaver zwischen John und Zollbeamten begann über die Gesetzübertretung aufgrund Geschwindigkeitsübertretung. Einen Augenblick später jedoch war alles vergessen: Zehn Schritt entfernt hoppelte ein Hase über das Pflaster der kleinen, einsamen Grenzstelle. Nicht schnell, nur so. Wieder ein paar Augenblicke später rannte der Hase umgekehrter Richtung über die Straße - verfolgt von einem guten halben Dutzend Männer. Der Beamte, der John wider Erwarten nicht einfach am Schlagbaum durchgewinkt hatte, brüllte weiter oben am Berg seine Anweisungen, wie der Hase zu fangen sei. Und John? John konnte unbehelligt durchfahren - vorbei am Jagdgetümmel, in das neue Land. Solch eine Grenze meine ich - auch nicht. Ich meine diejenige Grenze, auf der unsere Osterbräuche und Ostermotive liegen, die bei uns die christliche Hoch-Zeit Ostern ausmachen daß sie vorher je mit Ostern zu ohne tun hatten. Unsere Hasen zum Beispiel, die Osterhasen (von denen einer da an der Grenze gejagt wurde, um als Osterlammbraten herhalten zu müssen) oder Eier, unsere Ostereier zum Beispiel, oder unsere Osterfeuer. Allesamt sind sie wunderschöne und zu Ostern nötige Requisiten, die wir heute zu Ostern nutzen und brauchen in Bräuchen. Sie sind aber dennoch ,,auf der Grenze" zwischen unserem relativ jungen christlichen Osterfest und unseren urältesten heimischen Bräuchen. Die Eier wurden längst vor dem Christentum gegessen und verehrt zur Steigerung der Fruchtbarkeit zwecks Erhaltung der wertvollen Gattung Mensch, besonders von uns Nordgermanen. Die Hasen, besonders die männlichen unter ihnen, die Rammler, taten ein Übriges zu diesen alten Symbolspielen hinzu, die sich immer um Zeugung und Geburt, um Werden und Wachsen drehten Menschen und Jahreszeiten und des bei den letzteren besonders des schwangeren Frühlings. Und das Feuer war ein ebenso probates, bewährtes Mittel zur Vertreibung böser Geister - an dem man sich bequemerweise gleich wärmen konnte. Genießen wir sie, unsere lieben Ostermotive und Bräuche zu Ostern! Kaufen wir weiter Eier ein, bereits elektronisch angepinselte oder welche zum Selbstanmalen. Wünschen wir uns aber ruhig auch wieder „Fruchtbares" dabei - was dabei „rauskommt" muss sich nicht auf menschliche Familienplanung beziehen bzw. diese durcheinanderbringen, sondern kann sich ja auf geistige Früchte und auf Früchte unseres Gefühls beziehen, mit dem wir Frühling feiern. Schlecken wir ruhig unsere (cholesterinfördernden Schokoladen-) Hasen oder schlachten und genießen die Lämmer aus den Uelzener Schafherden, um sie mit Messer und Gabel zu verspeisen zeitgleich mit einer Zollbeamten-Familie auf der Grenze zwischen Schweiz und Frankreich. Zünden wir ruhig unsere schönen feuerwehrgesicherten Osterfeuer überall an, dabei Würstchen und Bier und Schluck genießend. Und schauen an dieser Grenze, auf der unsere Bräuche gebraucht werden, hier und da auch über die Grenze hinüber, so wie John, der dann über eine Grenze fuhr in ein neues Land - dank einer Jagd, die (in unserem Hasenfall) mit dem Tode endet. Guten Appetit und frohe Vor-Ostern!
6. April 1993