Von Bussen, Bahnen und Höfen
Er wirkt auf mich ebenso großzügig wie etwas verloren - unser neuer Bahnhof, den ich jetzt ausprobierte: unser Bahnhof für Busse. Die Verlorenheit mag darin begründet sein, daß ich nur die durchsichtigen Plastikschalen gegen den grauen Morgenhimmel ragen sah, aber keine Busse, diese Nachfolger der Postkutschen. Was diese kunstobjektähnlichen Plastikschalen für die Wartenden von heute sind, waren die gemütlichen „Gasthöfe zur Post" früher: Sammelplätze von Menschen, die sich fortbewegen wollten. Oder mussten. Weg von einem heimatlichen Ort hin zu einem fremden. Oder umgekehrt: Aus der Fremde kommend zurückkehrend in die Heimat. Moderner Kunst kommen die Plastikschalen zum Warten sicherlich sehr viel näher als der Gemütlichkeit damaliger Postgasthöfe. Die Qualität des Wartens in dieser kalten Plastikkunst ist eher Qual als Qualität. Umgekehrt ist es mit dem Vehikel selbst, dem Bus. Seine Urahnin, die Postkutsche, verband zwar die Heimat, den heimeligen, heimlichen Wohnort mit der unheimlichen Fremde, aber nur ahnungslose Romantiker wünschen sich heute, mit der Kutsche gereist zu sein statt im Bus. Mit Eisenrädern auf Kopfsteinpflaster zu donnern, tötete jeden verbalen Mini-Flirt. Und wenn es kein Kopfsteinpflaster war, dann transportierten die Heidesand-Stürme, aufgewirbelt von Pferdehufen und Rädern, die Reisenden in Zeiten der Atemnot und der Verstaubung. Während unser Busbahnhof mich verloren dünkt in seiner plastiziden Einsamkeit und Zumutung für den scheidenden Reisenden und sehnsüchtig stimmt nach wärmenden Postwechsel-Gasthöfen a la „der Postmeister", erfüllen mich die Busse auf unserem Busbahnhof mit Dank für den Reisekomfort von heute. Doch warum eigentlich Bahnhof"? „Bahnhof ist der Hof für die Eisenbahnen. Ein Ort, wo die Schienenbahnen zusammenlaufen, wo auf diese Schienenbahnen aufgestiegen werden kann, weil sie auf diesem Hof halten. Immer hat Bahnhof mit Schienen zu tun, und das „Neueste elegante Konversations-Lexikon für Gebildete aus allen Ständen", herausgegeben „im Verein von einer Gesellschaft von Gelehrten im Jahre 1843" (in dem die Welt von Eisenbahnen redete) sagt unter dem Oberbegriff „Verkehr“ Näheres über diese damals funkelnagelneuen Bahnen: „Durch Bahnhöfe laufen Schienenwege, sogenannte Riegelwege. Das sind parallel fortlaufende Eisen-, Holz- oder Steinschienen, auf denen Wagen mit Rädern von Gusseisen fortgetrieben werden". Und nun unsere chromblitzenden Bahn-Busse, die im Vergleich zur eigentlichen Bahn fahren können, wohin die Bahn der Straße sie führt! Die Straßenbahn heißt eigentlich auch ganz falsch, denn sie fährt auch auf Schienen. Jedoch die Straße macht erst den Bus zum Bus und unabhängiger als jede Straßenbahn oder gar Eisenbahn. Trotz all dieser Fehlbenennungen und Einschränkungen hatte ich von Anfang an eine Sympathie für unseren neuen Busbahnhof, der keiner ist. Das liegt an dem Holzgeländer mit den roh behauenen Balken, das den Eisenbahnreisenden vom DB-Bahnhof hinausgeleitet zum Bus-Bahnhof. Oder umgekehrt. Es erinnert mich an Wald, Forst und Splitter in der Fingerhaut und rührt mich zu Dank in seiner Dokumentationskraft: Mein Lieber, jetzt bist du wieder zu Hause!
5 Februar 1991