Rechte Schreibung
„Die haben es jetzt schwer", sagte Christine damals, als die Rechtschreibreform ihren verfrühten Triumphzug in Niedersachsen antrat. Und meinte diejenigen ihrer Schüler, die mit den alten Regeln begonnen und nun mit den neuen weiterlernen sollten. „Unmöglich haben die es jetzt!" stöhnte Christine jetzt und zog das „Uuuu" lang, weil nichts mehr gilt in der Schreibkunst. Bzw. gilt alles Bzw. gilt alles noch nicht. Christine sehnt sich derzeit nach der Häschenschule. Die „Häschenschule" war eines der beliebtesten Kinderbücher unserer Kindheit. Ich verschlang die Bilder mit den Stuhlreihen, auf denen Hasenmädchen mit Zöpfen saßen, der Lehrer vor seiner Tafel stand und den frechen Hasenjungs ab und zu eine langte. Andere Kinder meines Alters, die der Schule kritischer gegenüberstanden, weil sie sie besser kannten, liebten an der Häschenschule wohl eher die Tatsache, daß die Häschenschule im Freien, in der Freiheit des Waldes stattfand: Immer mit der Möglichkeit, in diese Wald- und Feld- und Wiesenfreiheit abzuhauen. Heute ist der zweite Schultag, an dem vermutlich nicht nur Christine, sondern ein erheblicher Teil der Belegschaften niedersächsischer Schulen von der Häschenschule träumt. Die einen träumen von ihrer geregelten Überschaubarkeit von dem, was richtig, was falsch ist. Die anderen von eben der Möglichkeit, abzuhauen. Weil wir gerade Reform(ationstag) hatten, fragen wir mal nach der rechten Schreibung mit Martin Luther Katechismus-Methode: Was ist das? Was jetzt gilt in Sachen rechter Schreibung, ist laut Obergerichtsbeschluss dies: Der Rechtschreib-Unterricht darf nicht mehr in der Reformfassung erfolgen, sondern es gelten wieder die alten Regeln. Jedoch: Es dürfen die reformierten, neuen Unterrichtsmaterialien für das Lernen der alten Regeln benutzt werden. Es soll dann jeweils am Beispiel des Neuen darauf hingewiesen werden, wie es nach den alten Regeln, also den gültigen, geschrieben werden soll. Das derzeit Richtige gilt allerdings nur vorübergehend - Weil dann die reformierte Reformfassung gelten wird. In unserer Gegend werden meist Kartoffeln herangezogen, wenn es um Ordnung oder Chaos geht: Raus aus die Kartoffeln, rin in die Kartoffel. In Sachen Rechtschreibung haben wir erstmalig die Situation, daß beides zeitgleich passieren soll: Raus und rin in die Kartoffel, synchron, gleichzeitig. Das ist nicht nur einfach das kreative Chaos, aus dem jede Kreativität stammt, sondern das ist die Freiheit schlechthin. Alles gilt in allem, würde Marc Aurel heute schreiben. Wenn er wüsste wie. Nichts ist falsch und nichts ist richtig, würde Alexander S. Neill in seiner Erziehungspsychologie der 1968 schreiben. Wenn er wüsste wie. Eigentlich gibt es nur zwei wirklich blöde Begleiterscheinungen für mich. Die erste: Ich kann derzeit gar keine Partei mehr ergreifen. Wie 1968. Oder in Sachen Rechtschreibreform. Weil es derzeit keine gibt für die neue Schreiberei. Oder gegen diese. Und wenn - zweitens - da nicht die alte Erfahrungsweisheit wäre, die da sagt: Wie man in den Wald einer Häschenschule hineinschreibt, kommt es auch wieder raus.
4. November 1997