Zeugnisse

Da gibt es die, die schon vor den Zeugnissen wissen, daß der Blick auf das schicksalhafte Papier die schlimmsten Befürchtungen nur bestätigt - oder übertrifft. Dann gibt es die, bei denen das Zeugnispapier nötig ist, um einen letzten scheuen Blick darauf zu werfen - um dann die bange Hoffnung endgültig fahren zu lassen, das Zeugnis der eigenen Leistung könne besser sein als diese selbst. Und es gibt die dritte Sorte, die Schweine. Ich meine natürlich nicht die, die Schwein haben, was so viel heißt wie zufallshaftes Glück. Ich meine diejenigen, die mich an dieses Schwein auf jener Postkarte erinnern, welches endgültig sei- nen mühsam eingeübten Kopfstand schafft- und kein anderes Schwein guckt zu. Karola ist ein solch armes Schwein. Karola ist Alexanders jüngere Tochter und die anderen Schweine, die Karolas Glanzstücke von Zeugnis-Zensuren gar nicht beachten, sind Karolas Familienmitglieder (was des- halb beachtlich ist, weil Alexander ja Berufspädagoge ist, kein Dilettant, kein Amateur, kein Laien-Erzieher wie wir sonst alle). Da kam Karola von der Schule zurück- und wedelte schon vom Gartentor her mit dem Halbjahreszeugnis, als wenn es eine im Schlachtengetümmel ertrotzte Standarte wäre. Dann sitzen sie um den Esstisch und was passiert mit Karolas glorreicher Urkunde? Es gibt Streit. Richtigen Krach. Keinen um auch nur irgendeine Zensur von Karola - das sind lauter Zweier und eine Eins. Bewahre, nein! Der Krach wird ausgelöst durch Nikola, Karolas ältere Schwester. „Das ist ja gar nicht auf Dich ausgestellt!' höhnt Nikola und piekst mit dem Zeigefinger auf die erste gedruckte Zeile, mit der Karolas Zeugnis beginnt. „Name, Vorname des Schülers' - steht da. „Das ist ein Zeugnis nur für Schüler, nicht für eine Schülerin!' ereifert sich Nikola, und dem aufmerksamen Leser / der aufmerksamen Leserin geht spätestens hier sicherlich auf, daß Nikola sich in einer Phase befindet, in der weibliche Identität dadurch gesucht und gefunden wird, indem sie auch verbreitet und durchgesetzt werden muss. Und sie hat Recht, die Nikola mit ihrer Suche nach Identität, die oftmals bei ihr suchtähnliche Ausmaße annimmt, aber jede Suche sucht irgendwo. Nikola sucht jede mögliche und unmögliche Gelegenheit (meistens letztere), Weibliches zu suchen und als von Männern verdrängt, versteckt, unterdrückt zu finden. Und wo sie Recht hat, hat sie Recht, die mann-/frau-streit- süchtige Nikola: Ursulas Zeugnis sieht nur „den Schüler' vor, und Karola sieht dafür nichts mehr, denn ihre blau-grau-grünen Augen füllen sich langsam mit Tränen. Da sitzt sie nun mit ihrem Staatszeugnis - und es ist nicht auf sie, das Mädchen Karola ausgestellt. „Was? ruft Alexander ungläubig und reißt das Dokument an sich. „Nur männliche Form? Tatsächlich!' (Alexander unterrichtet - wie dem aufmerksamen Leser/ der aufmerksamen Leserin sicher spätestens hier aufgehen wird - an einer anderen Schule.) Einer, die natürlich geschlechtsspezifische Zeugnisformulare ausgibt. Welche für „die Schülerin“ und welche für die anderen. Sagte ich schon, daß die reformbedachte, auf Gleichbehandlung der Frauen und Mädchen achtende Nikola eine Mutter hat, der man besonders bei diesem Thema anmerkt, daß Nikola ihre Tochter ist? Nikolas Mutter, Alexanders Frau, stürzte sich ebenfalls auf Karolas Zeugnis und sagte erbittert ihre Meinung über Lehrer und Schulleiter, die Mädchen und jungen Frauen männliche Formen aufzwingen. Bis in die Zeugnisse hinein, die schließlich die Leistungen eines Mädchens, einer späteren Frau dokumentieren sollen. Nikolas Mutter erntete heftige Zustimmung - bei Nikola und erst recht bei Alexander, der bei diesem Thema immer besonders heftig zustimmt, weil er Schul(d)gefühle hat. Nur Karola, die mit dem falschen Zeugnis, stimmte nicht zu. Sie ließ ihre Tränen inzwischen rollen. In einem schlechten Roman würden Karolas Tränen die mit Tinte geschriebenen vielen „Guts“ und das eine Sehr gut verwischen und unleserlich machen. In der Wirklichkeit hat Karola das beste Zeugnis von all den sie umgebenen Schweinen. Weder Alexander noch seine Frau noch Nikola hatten je ein so tolles Zeugnis. Und nächstes Jahr haben sich wieder ein paar mehr Schulen Zeugnis-Formulare, die beginnen mit „Name der Schülerin:...“

4. Februar 1992