Neues Bild
Mein nächster Freund und Nachbar Alexander, der mich - wie so viele nahe Freunde manchmal auch bedrängt, bedrängte mich in den letzten Tagen wegen seines neuen „offiziellen Fotos". Zu Weihnachten soll dies Bild auf den Gabentischen stehen von Alexanders Frau, seinen Schwiegermüttern (es sind zwei, weil er sich noch mit der Mutter seiner ersten Verlobten schreibt), seinen Tanten (vier), Patentanten (drei) und Patentöchtern (sieben). Die Männer seiner Familie sind nicht so interessiert. Einige Bilder will er „auf Vorrat" legen, sagt Alexander dunkel. Was immer das heißen mag: Vorrat. Den Ausschlag gab eine Besucherin, die Alexander auch er schreibt Bücher, wo er hinten oder vorne drauf ist doch glatt ins Gesicht sagte: „Sie sehen sich aber gar nicht ähnlich." Alexander kam von dieser Begegnung verunsichert zurück, weil er nicht wusste, um wieviel er heutzutage nun älter wirke, als auf den langsam historisch werdenden offiziellen Fotos. Beziehungsweise weil er nicht wusste, wie wahrhaftig und aufrichtig jene ihm gegenüber waren, die betonen, daß er in natura viel jünger wirke als auf den verbleichenden Fotos. Nun sind Fotos, zumal neue, die man in Auftrag gibt, stets ein Ereignis irgendwo zwischen Unterfangen oder Abenteuer, zwischen Hoffnung und Enttäuschung, zwischen Einsicht und Verblendung. Das weiß Alexander, der eine Mutter hatte, die einen Spruch hatte, auf dem mahnend zu lesen gewesen war, daß man ungefähr ab vierzig allein verantwortlich für sein Gesicht sei. Dieser Spruch hatte Alexander nicht zuletzt deshalb unvermeidlich geprägt, weil seine Mutter ihn eingerahmt auf die Toilette gehängt hatte. Zwischen Versen von Wilhelm Busch und Eugen Roth, die im Kontext mit jenem Spruch jeden Zweifel ausräumten, daß jener Vers nicht auf Kosmetik abziele und deren Möglichkeiten, sondern auf die persönliche Reife. Hatte Alexander deshalb immer gekniffen, wenn es in letzter Zeit um sein Konterfei ging? Immer darauf hinweisend, daß seine Verlegerin ohnehin bald wieder ein neues Foto brauche und die Schuld sei an seiner ewigen Jugend (auf den alten Bildern?) Nein, von Alexanders Frau weiß ich, daß seine Verlegerin nichts dazu kann. Alexanders Bücher gehen nun mal nicht wie Semmel, die wie nichts weggehen. Was übrigens ja kein Kompliment für einen Autor wäre, wenn seine Bücher „wie nichts" weggehen, wo er an deren Inhalten und Gehalten sitzt und sitzt und sitzt. Nun also - jetzt saß Alexander in einem sehr noblen Foto-Studio, weil er sein Abbild eben seinen vielen Frauen schenken will. Sagt er, der mich sage und schreibe die ersten drei Tage dieser Woche mit immer neuen Foto-Abzügen belästigt und mich anbettelt. „Sag doch was, wie bin ich? Trifft dies Bild mich oder jenes?" Nach meinem Eindruck ist Alexander von allen Bildern betroffen. Ich werde ihm beim nächsten Mal, wenn er wieder ängstlich fragt, ob dieses oder jenes Bild ihn besser treffe, eine altmodische Geschichte zum Thema vorlesen, die von Narziss. Jener Jüngling „Narziss" nämlich beschäftigte sich (aus tiefer-schürfenden Gründen, für die eine Zeitung nicht der rechte Ort ist) zu lange mit seinem Spiegelbild, indem er in ein stehendes Wasser schaute. Zu lange. So lange nämlich, daß er sich selbst verliebte und als soziales Wesen leider verkümmerte: Er liebte nur noch sich. Ein schlimmer Zustand, weil er meist davon zeugt, daß man selbst irgendwo früher nicht genügend geliebt wurde. Weshalb ich Alexander empfehlen werde, sich wieder mit anderen zu treffen. Und nicht seine Abbilder zu hinterfragen, ob die ihn „treffen". Oder ich gebe ihm zwei Adressen: Die eines schlechteren Fotografen (die alten „Idiotenboxen" machten eigentlich die besten Bilder). Und die eines Kollegen, der speziell narzisstische Persönlichkeitsstörungen behandelt.
3. November 1998