Protestler
Ganz richtig: Eine Nachlese auch zu Gorleben vor einer Woche. Aber nicht nur zu denen. Sondern auch- zu meiner Kolumne vor einer Woche. Sie hätte nicht sollen sein. Genauer: Sie war schon gewesen. Ganz genau: Mein Text Reformationstag" erschien schon einmal. Zum Reformationstag 2000. Ein Irrtum? Ja. Allerdings: Jeder Irrtum hängt mit etwas Wahrheit zusammen. Weshalb viele Irrtümer nicht immer Zufall scheinen.
War die veraltete Kolumne über den Protest Luthers am letzten Dienstag Zufall - am Ende eines ganz anderen Protesttages? War jener Versprecher nur Zufall, der an demselben Abend in die TV-Kamera von einer Blondine gesprochen wurde, welche einen Journalisten vor Ort in Gorleben fragte: „Wie verhalten sich denn gerade die Protestanten?", schauen wir also auf die (Un-)Zufälle, wo es um Protestanten und Protestler ging. Obwohl Martin Luther im Frühjahr sonst nichts zu suchen. hat, weil es darin keinen Reformationstag gibt, noch einmal zu ihm: Sein Protest in Form der damaligen Vorläufer von Transparenten und laufenden Kameras (Thesen-Papiere an der Kirchentür) fand breite Akzeptanz. Besonders hierzulande.
Auch der Protest gegen jene Atompolitik, welche den Castor nun in die Unterwelt Gorlebens brachte, findet breite Akzeptanz. Mit bestimmten Protestverhalten findet dieser Protest sogar Respektanz bei denen, die sonst nicht die Meinung von Atomgegnern meinen. Voraussetzung für diesen Respekt Andersmeinender: Friedliches Protest-Verhalten, ziviler Ungehorsam. Sogar Gott und seine irdischen Stellvertreter rufen dazu auf.
Nun kettete sich in der Nähe von Bavendorf ein Robin Wood - Aktivist gegen Castor in einer hochkomplizierten, selbstgebauten Rohr-Fesselkonstruktion an die Gleise. Später informieren ein Hauptbrandmeister und sein Team, dass es drei Stunden dauerte, bis der Protestler mit Spezialgeräten „befreit“ worden sei.
Und ein Professor Dr. med. Schiedmayer und dessen Team vom Städtischen Klinikum Lüneburg berichten, dass der Patient dabei unter ständiger medizinischer Beobachtung stand, als mit einem Magenspiegelungs-Endoskop endlich herausgefunden worden sei, wann, was wo ohne Schaden für den Aktivisten gesägt, geschweißt und weggeflext werden konnte.
Ich freue mich mit diesem Robin Wood, mit dem Hauptbrandmeister und mit dem Professor Schiedmayer, dass der Mensch zu keinem äußeren Schaden kam. Aber Befreiung"? Patient"? Im Moment einer ärztlichen Hilfestellung wird jemand natürlich Patient. Aber da gibt es jenen feinen Unterschied, ob sich jemand aus politischen Gründen in eine „Befreiten-Rolle" oder Patientensituation begibt. Oder aus gesundheitlicher Not.
Wenn jedoch politische Note solche Kreativitäten freisetzen wie freiwillige Rohr-Fesselkonstruktionen oder Einbetonierungen - dann frage ich mich, warum Martin Luther, Rosa Luxemburg und Gandhi nur ihre kümmerlichen Papierchen und Stimmen nutzten und nicht mehr? Sie „pervertierten“ (lat. = verdrehen) noch nicht und beanspruchten bei ihrem Protest gegen Staaten und Kirchen nicht gleichzeitig deren Schutz.
Vielleicht ist doch eine Reform unserer Protestverhaltensweisen nötig. Und wir haben demnächst einen zweiten Reform (aktions)tag im Jahr. Dann wäre - nachträglich betrachtet - der Irrtum vom letzten Dienstag keiner und jene Frage in Gorleben, wie sich denn die Protestanten verhielten keine solche Blamage.
03. April 2001