Frühchen
Er schien mir aus einem der Rockstar-Poster in Dorotheas oder Friederikes Zimmer entstiegen, wie er mich da auf dem Vorplatz des Kölner Domes überholte: Lederjacke, ebenso schwer wie schwarz, Metallkettchen über jeder Schulter, die behängt waren mit umgekehrt getragenen Kreuzen und kleinen Ritterschwertern, die immerhin so laut klingelten, daß ich sie im Stampfen der Lederstiefel noch hörte. Und dann hörte ich die Töne, mit denen dieser Ritter von der modernen Gestalt mich überholt hatte. Töne, die ich kaum glauben konnte, obwohl ich Töne gut hören und merken kann. Oder haluzinierte ich? Imaginierte ich diese Melodie selbst, von der ich glaubte, sie bei ihm gehört zu haben? Ich, beschleunigte zwecks Überprüfung meiner Wahrnehmung den Schritt und holte den weiterhin zu seinem metallenen Klingelladen summenden, brummenden Jüngling ein. Es blieb dabei. Der Mensch hatte „O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit..." im Kopf und Kehlkopf, im Mund-Rachenraum und auf den Lippen. Er tönte - da bin ich sicher - vor sich hin und wusste nicht, daß er tönte, dieser mir unter anderen Umständen furchteinflößende Mensch. Geschweige konnte er wissen, was er sang: Jenes uralte Marienlied „O sanctissima, o piis-sima". Ein sizilianischer Flüchtlingsjunge soll es im Hause eines Johannes Falk während der Napoleon-Kriege im hohen Fieber gesungen haben. In der Feder dieses Geheimrat Falk wurde es das deutscheste Weihnachtslied neben der „Stillen Nacht". Ich verlor diesen kriegerischen Softie-Sänger aus dem Ohr und aus dem Auge und ging meinen Domspaziergang weiter. Auf der anderen Seite des Domschiffes begriff ich, was meinem schwarzen Ritter das Lied in die Erinnerung und auf die Lippen gezaubert hatte: Im Scheinwerferlicht wurde hier die Budenreihe für den Weihnachtsmarkt aufgebaut und über den ersten Hütten hing groß und dunkel die Weihnachtstanne. Das war in der ersten Novemberwoche gewesen und ich fand das alles sehr früh vor Advent und Weihnachten. So früh, daß mir die Frühchen, die Frühgeborenen auf der Station einfielen. Aber so ist Weihnachten nun mal geworden: Einjährliche Frühchen. Und der schwarze Mensch in seiner Rüstung singt sich dadurch früher und länger sein Lied, von dem er nicht weiß, daß er es singt. Aber er wird es fühlen.
2. Dezember 1997