„Und wer am 3. Oktober Geburtstag hat“
„Und wer im Januar Geburtstag hat..“, in dem alten Kinderreim geht es um Melden, um Knicksen, um in- die- Knie- Gehen. Hauptsache, das Geburtstagskind macht auf sich aufmerksam. Doch wer morgen, am 3. Oktober 1990 Geburtstag hat, hat's schwer, auf sich aufmerksam zu machen. Wir feiern nicht nur „die" Wiedervereinigung beider deutscher Staaten. Wir feiern die Geburt einer Ganzheit der Nation, deren gespaltene Teile sich bisher getrennt feierten, um sich gemeinsam zu schlagen...Wer morgen und künftig am 3. Oktober den Tag seiner persönlichen Geburt feiert, feiert künftig sich selbst- und zusätzlich sein ganzes Land. Dies Schicksal, nicht mehr völlig im Mittelpunkt zu stehen, sondern Teil einer feiernden Großgruppe zu sein - dies Schicksal haben im Kleinformat alle die erlebt, deren Geburtstag einmal auf eines der beweglichen Feste fiel: Ostern oder Pfingsten. Was die einen als Geburtstagsschicksal einige wenige Male im Leben in Kleinformat erleben, erleiden andere ein Leben lang und singen ein Lied davon: z. B. am 24. Dezember oder am 1. Weihnachtstag Geburtstag zu haben, haben zu müssen. Das „Happy birthday to you", das sie im Heiligabendtrubel gesungen bekommen, ist einsam und droht unterzugehen in Lawinen von rieselndem Schnee, Heerscharen von Knaben im lockigen Haar und zeitlebens hört ein solches Geburtstagskind den Satz: „Wir schenken Dir was größeres - zu Weihnachten und Geburtstag zusammen..." solche Geburtstagskinder erleben Mischfeste, Mischgeschenke - und oft gemischte Gefühle. Und nun der 3. Oktober und alle künftigen 3. Oktober, an denen die bisher sich selbst feiernden Menschen außer sich selbst nun das Ganze um sie herum, die Nation feiern werden? Werden sie das? Wollen sie das? Oder müssen sie das, obwohl sie es nicht wollen? Da ist einmal das Problem, daß die Geburtstagskinder am 3. Oktober das Ganze feiern sollen, was sie zu einem Teil vom Ganzen macht, nicht mehr zum alleinigen Mittelpunkt wie in alten Kinderzeiten sind, sondern auch deutsch. Als Deutsche wurden sie erwachsen und lernten, was es heißt, deutsch zu sein...Ab morgen werden diese Geburtstagskinder sich und „uns", die Nation, feiern. Was unsere kollektive Identität betrifft. Und manche trifft. Als Kind kannte ich nichts von „Identität". Aber ich kannte durch eine erste Reise mit der Mutter zu einem Versöhnungstreffen zwischen Holländern und Deutschen den Küstenort Noordwijk aan Zee und begann, die Holländer zu beneiden: Um ihre Fahnen und Fähnchen, die nicht nur staatlich vorgeschrieben und terminiert zu bestimmten Zeiten an öffentlichen Gebäuden flatterten, sondern vor dem eigenen Haus, aus der eigenen Wohnung, vor dem Wochenendhäuschen zeigten, daß ein Holländer zuhause sei, der dies zeigen wollte: Seine nationale Identität. Später wandelte sich dieser kindliche Neid auf die Fahnen in Trauer, wenn ich die Fähnchen vor jedem Hof und Ferienhaus eines Dänen sah oder in entlegensten Tälern und höchsten Jura-Höhen der Schweiz. Es war keine Trauer um die Fahnen, es war das, was verlorengegangene Identität umreißt und was der Psychoanalytiker Horst Richter mit „Die deutsche Neurose" bezeichnete. Im Hamburger Albert-Schweitzer-Gymnasium passierte dies: Eine Musikerzieherin spielte kürzlich in einer 7. Klasse vor den 12-13jährigen die deutsche Nationalhymne vom Tonband. Die Unterrichtseinheit hieß: „Kritische Sensibilisierung gegenüber nationalistischen Tendenzen". Das eine Ergebnis: Es erhoben sich die meisten der Schüler sofort von ihren Plätzen - restliche Einzelne folgten zögernd- und alle zeigten die Signale des Feierlichen, der Würdigung. Das zweite Ergebnis: Eine völlig verunsicherte Studienrätin, die mit ihrem Versuch, die Jugend zur Kritikfähigkeit zu erziehen, gegen eine Mauer stand. Es ist eine gute Sache, ein Übermaß nationalistischer Euphorie verhindern zu wollen, in welcher die Identität des Einzelnen leicht untergeht wie wir aus dem kurzen Reich, das einige das 1000jährige nennen, lernen konnten. Aber erstes beginnendes nationales „Wir-Gefühl" gleich im Keim durch Kritik ersticken zu wollen? Die neue Identität macht sich nicht an Fähnchen und Hymne fest, also an der Ausstellung von Identität, sondern an der Einstellung zu ihr. Denjenigen, die an dem 3. Oktober bisher und künftig ihren persönlichen Geburtstag feiern, schenkt die Nation neben dem Problem der Mischung zweier Feste immer- hin auch lebenslanges tagsüber-Feiern-Können. Jeder Geburtstag ist künftig gesetzlicher Feiertag. Hoffentlich. Außerdem - der Tag der Wiedervereinigung am 03.10.1990 trifft Geburtstagskinder, die im Sternbild Waage geboren sind. Auch wenn man Sternbildern sonst nicht folgt - wie ich - als Sinnbild ist es wunderschön, welches nun unseren Nationalfeiertag, den Geburtstag unseres Landes, künftig schirmt. Das Sinnbild Waage könnte verhindern, daß der 3. Oktober eine „Wiedergeburt" Deutschlands wird. Wohl aber der Geburtstag eines anderen „neuen Deutschlands", als es „das neue Deutschland" wollte. Waage hängt mit, „ausgewogen" zusammen, was keinen Zustand bedeutet, sondern einen andauernden Prozess des Handeln müssen, des Ausgleichens. Und nicht zuletzt bedeutet vägen, ausgewogen halten, wie immer auch: Teilen-Können. Ich kenne ein Waage-Geburtstagskind, das am 3. 10. feiert und welches tatsächlich alle diese Wesensmerkmale hat. Ihm und allen anderen Geburtstagskindern am 03.10. sei Glück gewünscht. Und uns allen die Fähigkeit des Beitritts - zum Fest.
2. Oktober 1990