Auto-Mobilmachung

Wer das letzte Wort dieser Kolumnenüberschrift schon mal las, weiß daß es geklaut ist. Von Eugen Roth, dem scheinbaren Spaßmacher unserer Großelterngeneration, dem ich viel verdanke. Erstens besonders und zweitens allgemein. Im Besonderen verdanke ich ihm die Einstimmung in denjenigen Zustand, der morgen, am letzten Tag des Schuljahres beginnt: Ferien- und der damit verbundene Aufbruch der Massen. Dieser Massenaufbruch wird immer noch irrtümlich als „Reise" bezeichnet von denen, die das wirkliche Reisen bisher nicht kennenlernten. Außer natürlich Alexander. Alexander reist wirklich, wie er mir stolz, ja mit einem Beigeschmack von für ihn sonst untypischer Überheblichkeit heute schilderte. Heute, zwei Tage vor dem Aufbruch der Massen. Denn eigentlich, dozierte Alexander (wir wissen ja, er ist Lehrer)-„eigentlich", also dem Reisen eigen, ist nicht das pfeilschnelle Starten am Ort A (in unserem Fall: Uelzen), um möglichst ununterbrochen (in unserem Fall: ohne Staus) zum Ort B (dem Ferienort) zu gelangen. Eigen ist dem Reisen vielmehr der Zustand, in dem wir uns zwischen dem Ort A und B befinden. Reisen ist der Prozess, um irgendwo hinzukommen. Nicht das Produkt der Ankunft dort, wo wir ankommen wollen. Reisen ist Prozess und nicht das Produkt, als wie es von der weißen Industrie verkauft wird. „Reisen heute," philosophierte Alexander und hob seine große Nase ein wenig höher als sonst und erinnerte mich dadurch an die Abbilder erleuchteter Begnadeter „Reisen", sagte Alexander, „ist eine Mobilmachung der Massen und ihre Waffe ist das Auto." Alexanders Nase blieb erhoben und Erleuchteten soll man nicht mit profaner Kritik kommen. Zum Beispiel der Kritik, daß dieser Gedanke der Auto-Mobilmachung schon einmal von einem gewissen Herrn Roth benutzt sei. Auto-Mobilmachung, harrte Alexander, sei heute. Und morgen Mittwoch, der letzte Schultag in einem niedersächsischen Landkreis wie Uelzen, beginnt der Krieg. Die Massen werden sich in Bewegung setzen mit ihren Waffensystemen und ausziehen in die Schlacht, die sich wie alle Schlachten in bestimmten Bahnen vollzieht. Hier: Autobahnen. Und wie sonst im Krieg nach einer Mobilmachung wird es ein Vor! und Halt! geben, ein Stop and go. Und ein wechselseitiges wüstes Vorhalten dieses Vor und Halt. Und wie sonst im Krieg wird auf den Schlachtenbahnen Stange an Stange starren, mit denen gestoßen wird. Stoßstangen eben. Ich stimme dem irgendwie abgehoben wirkenden Alexander zu, daß die Welt zu Ferienbeginn noch schlimmer geworden sei als Eugen Roths Welt. Damals waren nur die schönen, alten Parks sein Kummer, die von Autos verstellt waren. Weswegen das Wort vom ,,Park-Platz“ für mich eine neue Bedeutung bekam. Heute ist die gesamte BAB ein Park-Platz. Alexander hat schon Recht und das genießt er. Deshalb macht er dasselbe mit seinem Genuss, wie alle anderen Genießer auch: Er wiederholt ihn. Unerbittlich. Ambivalent wenn nicht gar kontraproduktiv sei die heutige Welt-Auffassung, sei das Menschenbild von Auto-Mobilmachern, erörtert Alexander streng und ich denke heimlich erneut an Roth, der da schrieb: „Kraftfahrer sind ein Teil der Kraft / Die Gutes will und Böses schafft. Der beste Vorsatz wird zum Pflaster / Der Straße, führend doch zum Laster/Wir schwören, zu fahren, jetzt und später / Nie mehr als sechzig Kilometer /Zu schauen, ja, gar auszusteigen / Sollt unterwegs sich Schönes zeigen-/Doch, statt wie wirs uns vorgenommen, / Schaun wir nur, daß wir weiterkommen / Und lernen alsbald, nolens-volens / Die heikle Kunst des Überholens...". Aber Alexander gegenüber zitiere ich nicht gern. Erleuchteten muss man das Gefühl geben, ihre Erleuchtung sei erstmalig. „Ich", Alexander wird lauter, „finde: Das Auto betrügt uns, verführt uns, bringt uns um! Ich mache das nicht mehr mit! Nicht wahr, Ulrike?" wendet er sich dabei an seine Frau. Ich frage ganz verschämt, eingeschüchtert und zurückhaltend - womit die Familie Alexanders sich gegen die Automobilmachung morgen zu wenden gedenkt. Zurückhaltend deshalb, weil ich die Tatsache zurückhalte, daß ich morgen auch mittels Auto in den Krieg ziehe. „Wir (er dehnt dies Wort ,,wir") fliegen!", sagt Alexander mit diesem langsam penetranten Stolz, „Alle drei Autos bleiben vier Wochen zuhause! Nicht, Ulrike?" Und erst auf Rückfrage, welcher Flughafen und wie dahinkommen, erzählt mir Ulrike, daß sie von einem Kollegen Alexanders mit dessen Kleinbus zum Airport gebracht werden. Am Ankunftsort, dann wartet das Mietauto. Für eine Wüstenfahrt, wie Ulrike berichtet. 10 000 Kilometer durch die Sahara. Aber mit vorgebuchten Viersterne-Oasen. Als ich mich verabschiede von Alexander (wir nehmen uns meist dazu in den Arm, den flüchtigen) fällt Alexander etwas aus der Brusttasche. Es ist es! Eugen Roths Sammlung: Gute Reise! Drum!

2. Juli 1991