Eine Neujahrsgeschichte mit Bart

Wir saßen in seinem Studierzimmer in einem Klinikgebäude am Rande von Dresden und kannten uns knapp zehn Minuten. In diesen zehn Minuten war es um seine - des Mediziners - erste Erfahrungen in einer Großdemonstration am Vortag gegangen, in der er - der sonst allein redete - mit Tausenden skandierte und Plakate schwang. Solche mit heiteren Texten und solche mit trauernden. Und so kam er selbst mir auch vor: Gleichermaßen heiter und tieftraurig, dieser DDR-Wissenschaftler. „Und jetzt", sagte er unvermittelt, „möchte ich Ihnen erzählen, warum ich diesen Bart trage." Er strich an diesem seinem Bart herab, den ich jetzt erst genauer studierte: Noch etwas stoppelig an den Kinnseiten, dafür kräftig an der Kinnspitze und vor allem - weiß! Ein weißer Bart unter fast schwarzem Haupthaar. „Ich weiß", mein Gesprächspartner lächelte, „er ist noch mager, aber 1990 wird er voll sein." Und dann erzählte er von einem der feudalen Kurfürsten, die hier in Dresden residiert hatten, der als seine einzige Tochter überraschend starb sich einen Bart wachsen ließ. Als Zeichen seiner Trauer um sein Kind. Und da die Liebe um dieses Kind so groß gewesen war, blieb auch seine Trauer unendlich. Fast wie sein Bart, der dem Kurfürsten später bis an die Knie reichte. „Meine Ursula", flüsterte mein Gesprächspartner fast wie nebenher am Ende seiner Kurfürsten-Geschichte, ist auch fortgegangen. Vor fünf Wochen." In die Stille, in der ich die Gefühle dieses Vaters zu verstehen versuchte und dabei an Sterben, Tod und großen Abschied dachte, hörte ich erneut seine Stimme: „Ursula ist vor fünf Wochen mit ihrem Mann und dem Kind über Budapest nach Schleswig-Holstein geflohen. Und seitdem lass ich ihn mir wachsen." Seine Stimme war bis jetzt fest gewesen, wenn auch leise. Erst beim weiteren Erzählen wurde sie weicher, brach manchmal ab, als er erzählte, was ihn um seine Ursula ebenso trauern ließ wie Weiland den Kurfürsten, obwohl seine Ursula doch lebte. In einem freien Land, das er - der Arzt, ihr Vater doch nun auch als freier Mann bereisen könne, weil es auch sein Land sei, das bisher feindliche, klassenfeindliche. Er trauerte nicht um das Leben seiner Tochter. Nein, natürlich würde er sie und ihren Mann und den Enkel besuchen können. Schon bald, zu Neujahr wenn der Bart ganz voll gewachsen sei. Aber er würde sein Kind besuchen müssen in dem Bewusstsein, ihr eine falsche Kindheit und Jugend vermittelt zu haben. Vom Kindergarten an habe er ihr, der 3jährigen, erklärt, warum die Gäste aus der Bundesrepublik anderes Spielzeug, mehr Spielzeug, buntere Kinderkleider mitgebracht hätten, als sie sie hier in Dresden je bekommen würden. Schon damals habe er dem Kind die Zukunft des Sozialismus zu erklären versucht - an den er vom Prinzip her fest glaubte. Gerade weil er einen Helferberuf habe. Nicht der Sozialismus des Ulbricht, des Honecker - nein, der Sozialismus der großen Ziele, an die er seit dem Studium fest glaubte. Und noch in der Pubertät, als die Ursula peinigende Interviews mit ihrem Vater, mit ihm, über den Sinn dieses bedrückten, weil unterdrückten Lebens führte und in die Nächte hinein stritt - noch da hatte er sie überzeugen wollen, daß sie hier in der DDR - diese großen Ziele einer Gesellschaft von Menschen ehrlicher erreichen würden als die Verwandten drüben. Die Überzeugungsarbeit war dann in Bettelei übergegangen, hierzubleiben. Das war, als Ungarn die Grenzen geöffnet hatte und die Flucht in einer Weise begann, die überall das Bild der Welle, der großen überschwappenden Meereswelle bekam. „Zu Neujahr fahren wir hin", schloss er, „nach Schleswig-Holstein." Er würde ihr dort im ersten ausführlichen Gespräch sagen müssen, daß sie recht gehabt habe. Er sei betrogen worden und so habe er sie betrogen. Deshalb wachse sein Bart: Wegen des Abschieds von einer Idealvorstellung, nach der er ihr ihre Kindheit und Jugend gestohlen habe. Für sie - zitierte er seine Tochter – „sei er gestorben" mitsamt seinen sozialistischen Idealen. An diesen Mann und seinen Bart denke ich jetzt, Neujahr 1990. Und nehme mir für dieses neue Jahr, welches das letzte Jahrzehnt eines Jahrtausends einleitet, fest vor, wach zu sein den kleinen Abschieden und kleinen Neuanfängen gegenüber ebenso wie den großen Abschieden und den großen Neuanfängen. Ob es Menschen sind, Berufe, Wohnorte oder Ideologien oder Jahre, von denen wir uns verabschieden oder auf die wir zugehen - ab und zu lohnt es, über Dinge nach- und vorzusinnen, die längst „so nen Bart haben". Ob so ein Bart nun am Kinn eines sich getäuscht und enttäuscht fühlenden DDR- Wissenschaftlers wächst oder in unserer Seele es ist ein neues Jahr da zum Wachsenlassen.

2. Januar 1990