Vom Brauchen der Bräuche

Da ist sie wieder die Zeit der Bräuche. Adventsbräuche, Weihnachtsbräuche, Silvesterbräuche, Neujahrsbräuche... Mein Gott, brauchen wir jetzt wieder Bräuche! Und Geld dafür. Und Zeit erst! Außer daß wir Bräuche brauchen („ohne Rituale kein lebendiges Leben", predigt Freund Paolo und sangen schon die Psalmisten) ist auch spannend, wie wir sie brauchen. Da sind „der kleine Prinz" und der Fuchs im Kultbuch von St. Exupery einmal mehr weise Lehrer: „Es muss feste Bräuche geben," sagte der Fuchs. „Was heißt fester Brauch?" fragte der kleine Prinz. „Auch etwas in Vergessenheit Geratenes", sagte der Fuchs. „Es ist das, was einen Tag vom andern unterscheidet. Eine Stunde, von den andern Stunden." Ich denke an meinen Terminkalender und daran, wie ich den Gebrauch der Bräuche in den Advents- und Feiertagsserien plane: Weihnachtsfeiern in Serie, Weihnachts- und Neujahrsgruß-Versand stapelweise. Mit Listenkontrolle vom Vorjahr, wer wie immer, wer nicht mehr und wer vielleicht noch einmal den Rundbrief kriegt. Weihnachtsgrüße als Test der Reaktion? Ich denke an unseren häuslichen Supermarkt und das Sortieren, wer von den Lieben den Gruß mit Lebensmitteln erhält (heimatliche Wurst, Honig, Marmelade) oder mit geistigen Lebensmitteln (das letzte Buch, die neue CD). In meine Bräuche des Schenkens und des Feierns hat sich das leider immer zugehörige Gegenteil eingeschlichen: Missbrauch. Qualität, Quantität vor Pflichtgefühle vor Vorfreuden, Zeitnot vor Zeitnehmen. Der Fuchs erzählt dem kleinen Prinzen, daß Donnerstag immer sein schönster Tag sei. Weil die Jäger am Donnerstag mit den Mädchen tanzen. Dann kann der Fuchs in Ruhe auf dem Weinberg spazieren. Er wird nicht gejagt. Nur die Mädchen beim Jägertanz. Ich wünsche mir, ein weihnachtlicher Fuchs zu werden: ich würde meinen häuslichen Supermarkt drosseln. Nur wahre Liebe(n) in Nachbar - Kollegen-, Freund- und Verwandtschaft beschenken. Ich werde ein Störfaktor im Konzept der politischen Planung sein, privaten Konsum anzuheizen. Ich werde draußen in der Allenbosteler Forst, meinem Weinberg, spazieren. Während andere jagen und sich jagen lassen. Ich werde Kerzen auf irgendeine Tanne kleben und in die Flammen schauen, bis ich friere. Deswegen gehe ich dann Glühwein trinken und anschließend singen. Mal werde ich in ein Kirchlein schreiten und mal über einen Weihnachtsmarkt. Ich werde die Flöte hervorholen und den lauschenden Töchtern und Gästen eine Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens vorlesen. Oder die von Lukas 2 aus dem Neuen Testament. Ja? Würde ich? Nichts von der Aufzählung wird gelingen, weil unsere Zeit die Bräuche quetscht. Aber ich könnte jeden zweiten Pflicht-Brauch streichen und die übrigen Bräuche feiern. So werden einige Missbräuche wieder feste Bräuche. Die bevorstehenden Feiertage Weinbergtage. Wie die Donnerstage für den Fuchs.

1.Dezember 1998